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Die Frau die nie fror

Die Frau die nie fror

Titel: Die Frau die nie fror Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elisabeth Elo
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über die Schulter zurück.
    Ich mache ein paar Schritte vorwärts, als die Tür des Gasthauses auffliegt und zwei Männer herauskommen. Sie sehen aus wie einheimische Inuit. »Hey, was machst du da?«, ruft ­einer von ihnen, durchaus nicht unfreundlich. Troy bringt die Maschine auf Touren. Ich weiche schnell zurück, verziehe mich hinter den Range Rover. Jetzt sitzt Troy in der Klemme. Er wird niemals erklären können, was das soll, ein Motorrad zu stehlen. Und wenn Hall erst einmal herausfindet, dass ich weg bin, wird Troy nie wieder sicher sein. Ich flitze die Einfahrt an der Seite des Gasthauses hinunter. Vorne wird gebrüllt, und es herrscht einige Aufregung, als mehr und mehr Leute auf die Terrasse kommen, dann das Kreischen der beschleunigenden Maschine, als Troy losrast. Sekunden später starten andere Maschinen – es hört sich an wie die verbleibenden Motorräder und ein Auto – und nehmen die Verfolgung auf. Das Jaulen der Motoren wird zunehmend leiser, bis wieder nichts als arktische Stille herrscht.
    Was jetzt? Ich bin buchstäblich am Ende der Welt, zu Fuß, ohne einen Cent in der Tasche. Ich wage es nicht, zur Straße zurückzukehren, und wenn ich mich ohne Taschenlampe auf den Weg in das unebene, felsige Gelände mache, ende ich garantiert mit einem verstauchten Knöchel oder gebrochenen Bein. Von verlaufen will ich gar nicht erst reden. Der Hintereingang des Tungortok Inn liegt direkt vor mir, ein paar wenige unlackierte Holzstufen hoch, beleuchtet von einer nackten, orangefarbenen Glühbirne über der Tür. Fast jeder scheint vor dem Gasthaus zu sein und laut über den Diebstahl zu reden.
    Die Tür ist nicht abgeschlossen. Ich betrete einen dunklen Hauswirtschaftsraum, wo ein paar vollgestopfte Müllsäcke die fauligen Gerüche von vergammelndem Fisch und Müll ver­strö­men, gehe schnell an einer hell erleuchteten Küche zu meiner Linken vorbei und erreiche einen düsteren Flur mit ab­ge­wetztem roten Teppichboden. An der Wand hängt ein Münzfernsprecher und ein alter Zigarettenautomat. Zwei Türen sind mit affig wirkenden Piktogrammen für Gents und Dames gekennzeichnet. Ich habe vor, mich auf die Damentoilette zu verziehen, als ich ein Stück weiter eine schmale Treppe bemerke. Schnell nehme ich die Stufen hinauf und komme auf einen weiteren ruhigen schäbigen Flur. Auf dem Boden dünne, blaue Auslegware, abblätternde Tapete mit goldenen Medaillons auf blauem Grund, mehrere geschlossene Türen mit runden Messingknäufen. Eine Deckenlampe am vorderen Ende beleuchtet eine breitere Treppe, die zum vor­deren Teil des Gasthauses hinunterführt. Ich habe Angst, dass jemand aus einem Zimmer kommt und mich sieht, also versuche ich mein Glück mit der nächsten Tür, die sich mit leisem Knarren öffnet. Das Zimmer ist klein, quadratisch, niedrig. Licht aus dem Flur wirft Schatten von einem Doppelbett ohne Kopfende, einer Weichholzkommode, einem Stuhl mit gerader Rückenlehne. Ich entdecke kein Gepäck, keinen Hinweis, dass das Zimmer benutzt wird. Aber es ist der abgestandene, feucht-muffige Geruch, der nahelegt, ich könnte hier sicher sein. Das einzige Fenster des Zimmers ist seit Wochen nicht mehr geöffnet worden.
    Ich schließe die Tür hinter mir, zucke bei dem Knarren zusammen. Man verriegelt sie durch Eindrücken eines schlichten Knopfes auf dem Türknauf, den man locker von der anderen Seite mit einer Haarnadel wieder lösen könnte. Dann breche ich auf der Stelle in der Dunkelheit auf dem Boden zusammen und kugle mich in der Embryonalstellung ein. So liege ich eine ganze Weile, zittere am ganzen Leib, lasse den ganzen, über den Tag angesammelten Schrecken aus mir heraus und bin viel zu benommen für einen klaren Gedanken. Eine Etage tiefer, im entfernten vorderen Teil des Gasthauses, genießen Passagiere und Besatzung der Galaxy eine gut zubereitete Mahlzeit hiesiger Delikatessen. Manche Leute haben einfach nur Glück.
    Schließlich rapple ich mich auf und gehe zum Fenster. Mil­lionen von Sternen wirbeln in milchigen Bändern über den samtschwarzen Himmel. Mir kommt in den Sinn, dass van Gogh doch nicht so wahnsinnig war. Aber genug über Kunst. Ich brauche eine Toilette. Im Zimmer gibt es keine, also werfe ich einen vorsichtigen Blick aus der Tür, springe dann über den Flur in ein Gemeinschaftsbad, groß, sauber und fensterlos, und schließe mich ein. Ich pinkle heißen Urin und schäle mich aus meinen blutbefleckten Klamotten. Als ich in den Spiegel blicke, sehe ich eine

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