Die Frau die nie fror
(bislang), mit (so hoffe ich) einigen Antworten in greifbarer Nähe. Ich wühle in den Schreibtischschubladen, einfach nur weil’s Spaß macht, aber der Inhalt ist ausgesprochen langweilig.
Ich mache mit dem Aktenschrank weiter, in dem, wie Mrs Smith sagt, die Logbücher aufbewahrt werden. Dort finde ich Rechnungen, technische Unterlagen, Kaufverträge, mechanische Spezifikationen. Die Informationen reichen zehn Jahre zurück. Ich suche nach Namen von Schiffen, Fahrtberichten, alles, was als Euphemismus für ein Schiffslog herhalten könnte. Nichts. Seekarten, Berichte der Umweltbehörde EPA und Dokumente der Fischereibehörde füllen die nächsten beiden Schubladen. Die unterste Schublade ist nicht viel anders – bis auf die Flasche Jack Daniels, die mit zwei in Papiertücher gewickelten Schnapsgläsern ganz hinten versteckt ist.
Der Staubsauger verstummt und hinterlässt auf der Etage eine spürbare Stille. Ich habe keine Ahnung, was ich tun würde, wenn jetzt jemand hereinkommen wollte. Das Reinigungspersonal würde überrascht sein, dass abgeschlossen ist, denn das ist ungewöhnlich. Ich gehe die nächsten Papierstapel auf dem Boden durch, als ich das leise pneumatische Wusch der Fahrstuhltür höre. Ich erstarre. Eine Männerstimme ruft mit einem charmanten indischen Akzent – teils knappes britisches Englisch, teils düsterer Subkontinent – nach Nanda. Eine Frauenstimme antwortet melodisch vom Ende des Ganges. Ein paar Sekunden später hört man unmittelbar vor Jacobsens Büro ein vergnügtes, sprudelndes Lachen. Sie muss zu ihm gelaufen sein, und jetzt findet, nicht viel mehr als drei Meter von der Stelle entfernt, an der ich sitze, ein leidenschaftliches Wiedersehen statt. Es ist ermutigend, sich vorzustellen, dass die langen, einsamen Nächte einer Putzfrau auf diese Weise aufgeheitert werden können.
Ich lausche, weil mir gar nichts anderes übrigbleibt. Es ist unmöglich, sich auf das zu konzentrieren, was man gerade tut, wenn Leute sich in Hörweite sexuell verlustieren. Und ich kann ja schlecht gegen die Wand hämmern und rufen, sie sollen sich ein Zimmer nehmen. Ich versuche, mich von den Geräuschen nicht zu einer gedanklichen Reise in die Vergangenheit verleiten zu lassen – zurück zu meinen eigenen wilden Nächten, aus denen dann schließlich die letzte wilde Nacht wurde, die wiederum in lange, kalte Nächte mit russischen Romanen und koffeinfreiem Tee überging. Es gibt keinen einzigen Ort auf der Welt, an den man sich zurückziehen könnte, keine Tages- oder Nachtzeit, an der man die Liebe vergessen kann. Schließlich, gerade als es scheint, das glückliche Paar stände kurz davor, auf den Teppichboden zu sinken, um sich leidenschaftlich einander hinzugeben, schaffen sie es, sich in das Büro am Ende des Flures zu schleppen, und ich kann mich endlich wieder meinem Vorhaben widmen.
Mein Blick fällt erst jetzt auf den tragbaren Aktenkasten aus Kunststoff, der in der Nähe des Schreibtischs auf dem Boden steht. Oben hat er einen Griff und einen Verschluss, der halb geöffnet ist. Ein kleiner Aufkleber unter diesem Handgriff verkündet in blauem Filzstift »Logbücher«. Ich öffne ihn. Die Akten sind alphabetisch nach Schiffsnamen geordnet. Der Sea Wolf -Ordner ist der vorletzte. Ich ziehe ihn heraus und überfliege den Inhalt. Der jüngste Bericht ist drei Jahre alt.
Ich breite die übrigen Mappen auf dem Schreibtisch aus und gehe sie schnell durch. In jedem befinden sich Berichte, die nicht älter als wenige Monate sind. Die gesamte Flotte der Firma hat dem Produktionsleiter detaillierte Schilderungen ihrer Fahrten auf handschriftlichen, geklammerten Seiten eingereicht, die chronologisch abgelegt sind, das jüngste Datum immer oben. Die gesamte Flotte, das heißt mit Ausnahme der Sea Wolf , von der seit 2010 kein Bericht mehr vorliegt. Obwohl sie doch häufig im Einsatz gewesen ist.
Wieder das Seufzen und das leise Ping der Fahrstuhltür. Ich warte, rechne damit, dass jemand aussteigt, vielleicht ein Vorgesetzter, der den Turteltauben die Nacht versauen wird. Die Tür schließt sich wieder, ich höre nichts. Anscheinend ist niemand ausgestiegen. Doch dann vernehme ich einen ruhigen Schritt auf dem Teppichboden direkt vor Jacobsens Tür. Gerade als ich glaube, ich hätte es mir nur eingebildet, sehe ich ein Schimmern. Der Türknauf dreht sich langsam und stockt dann, als er den Punkt der Verriegelung erreicht. Wer immer auf der anderen Seite der Tür steht, zieht und drückt
Weitere Kostenlose Bücher