Die Frau, die niemand kannte: Thriller (German Edition)
genaue Gegenteil der Fall war: Sie waren nach Luxemburg gekommen, weil sie einen Auftrag zu erfüllen hatten. Wäre es völlig abwegig, von einem Attentat auszugehen?
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Kate knipste das Licht aus und drehte sich zu Dexter um. Der Geschmack von Rotwein vermischte sich mit dem von Zahnpasta, als sie das übliche Procedere durchgingen, hier leckten und sich dort berührten. Standardsex, nicht besonders befriedigend, aber auch nicht problematisch, lediglich ein weiterer unbedeutender Akt.
Danach ein Schluck Wasser, die Schlafanzüge übergestreift, die Atmung wieder ruhig und gleichmäßig, was nicht allzu lange gedauert hatte.
»Morgen spiele ich mit Bill Tennis«, sagte Dexter.
Sie wandte sich ihm nicht zu. »Du bist gern mit ihm zusammen, oder?«
»Ja. Er ist ein netter Kerl.«
Kate starrte im Dunkeln an die Zimmerdecke. Sie wollte über all das mit jemandem reden, musste reden. Und nicht mit irgendjemandem, sondern mit ihm. So groß der Groll sein mochte, den sie gegen Dexter und dieses neue Leben hegte, er war immer noch ihr bester Freund. Trotzdem war sie besorgt – nein, was sie empfand, ging über das diffuse, unbestimmte Gefühl von Sorge hinaus. Vielmehr war es eine Art Gewissheit –, dass sie damit eine Grenze in ihrer Ehe überschritten. Eine Grenze, die man erst bemerkte, wenn sich der Abgrund vor einem auftat. Man weiß, dass diese Grenze existiert, man kann sie spüren: Dinge, über die man nicht offen spricht. Sexuelle Phantasien, Flirts mit anderen, das tief sitzende Misstrauen, Ressentiments und Zweifel. Man ist sorgsam darauf bedacht, bloß nicht in die Nähe dieser Grenzen zu kommen, während man so tut, als existierten sie nicht. Und wenn man eines Tages davorsteht und vorsichtig eine Zehe auf die andere Seite streckt, ist es nicht nur schockierend und schrecklich, sondern banal.
»Wieso fragst du?«, fragte Dexter. »Du hörst dich an, als hättest du etwas auf dem Herzen.«
Würde Kate jetzt sagen: »Dexter, ich fürchte, Bill und Julia sind nicht die Menschen, die sie zu sein vorgeben«, würde er wütend werden. Er ginge in die Defensive. Und käme mit einer ganzen Reihe plausibler Ausreden und Erklärungen an.
»Hast du etwas gegen Bill?«
Am Ende würde Dexter Bill dezent darauf ansprechen. Und Bill würde ihm irgendeine Erklärung servieren, die Dexter bereitwillig schlucken würde. Vermutlich, dass sie in einem Zeugenschutzprogramm wären und keine Details verraten dürften. So könnte der Wahrheitsgehalt ihrer Erklärung nicht überprüft werden. Kate und Dexter würden nie erfahren, ob sie logen oder nicht.
Kate konnte sich nicht entscheiden, was ihr wichtiger war: einen Streit mit Dexter über Bills vermeintliche Geheimnisse zu vermeiden oder sich weiterhin zu drücken, Dexter – endlich – ihre eigenen Geheimnisse zu gestehen.
Sie lag ausgestreckt im Bett, den Blick an die dunkle Zimmerdecke geheftet, und überlegte fieberhaft, was sie ihrem Mann antworten könnte.
Rückblickend war dies der Augenblick – kein unwiederbringlicher Moment, aber der, an den sie sich später erinnern würde –, der so vieles hätte verändern können. Noch war der Irrsinn nicht losgetreten, noch hatte sie nicht begonnen, Geheimnisse anzuhäufen, die das Ganze nur noch verworrener und komplizierter machten, bis sie alle in einem Teufelskreis steckten, aus dem es kein Entkommen mehr gab.
Sie lag im Bett und sehnte sich danach, ein Gespräch zu beginnen, konnte sich jedoch nicht überwinden, den Anfang zu machen. »Nein, natürlich nicht. Bill ist toll« war das Einzige, wozu sie sich durchringen konnte.
Die wichtigste Unterlassung ihres gesamten Lebens.
Heute, 11:40 Uhr
Am einen Ende des Korridors steht der Wäscheschrank voll mit ordentlich zusammengelegtem, geblümtem Bettzeug und flauschigen weißen Handtüchern, am anderen Ende der Schrank, in dem sie die Koffer aufbewahren. Kate dreht den Messingknauf, der auf die cremeweiß gestrichene Schranktür geschraubt ist.
Auf dem riesigen Schrankkoffer lagern zwei normal große Reisekoffer, die sie für die Sommerferien an der Côte d’Azur oder in Umbrien benutzen. Kate entscheidet sich für die Reisetasche und einen Trolley mittlerer Größe.
Sie trägt sie in das Zimmer der Jungs und beginnt, Unterwäsche, Socken und Hemden für drei Tage einzupacken. Im angrenzenden Badezimmer nimmt sie einen Kulturbeutel aus dem Regal, in den sie ihre Zahnbürsten und Zahnpasta wirft, dann zieht sie die Reiseapotheke aus dem Korb unter dem
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