Die Frau, die niemand kannte: Thriller (German Edition)
in ihrer Wohnung zu sein, hatte etwas Intimes an sich. Es fühlte sich beinahe verboten an.
»Danke für die Einladung.« Kate durchquerte die Diele und trat in einen langen Raum, der als Wohn- und Esszimmer diente. An der Westseite befand sich eine Fensterreihe, die Ausblick auf den palais mit seinen üppigen Vorhängen, schmiedeeisernen Balkongeländern, Sandsteintürmen und einer Flagge bot, die sie noch nie gesehen hatte.
Julia bemerkte, dass Kate zum Palast hinübersah, und folgte ihrem Blick. »Die Flagge ist oben«, erklärte sie. »Das bedeutet, dass der Großherzog sich in seiner Residenz aufhält.«
»Wirklich?«, fragte Kate.
»Ja. Wenn er nicht zu Hause ist, hängt sie unten.«
»Aber das ist doch gar nicht die luxemburgische Flagge.«
»Oh.« Julia trat neben Kate. »Du hast recht. Es ist die italienische Flagge. Das bedeutet, dass sich ein wichtiger italienischer Gast im Palast aufhält. Vielleicht der Premierminister. Oder der Präsident? Was haben die in Italien noch mal?«
»Beides.« Nicht als Expertin aufspielen, ermahnte sich Kate. »Glaube ich zumindest.«
»Wie auch immer« – Julia zuckte mit den Achseln –, »einer davon scheint jedenfalls zu Besuch zu sein.«
»Ich wette, du hast noch nie vorher gegenüber von einem Monarchen gewohnt.«
Julia lachte.
»Wo hast du eigentlich sonst immer so gewohnt?«
»Ach, in verschiedenen Teilen von Chicago.«
»Dein ganzes Leben lang?«
»Beinahe«, antwortete Julia. »Ich mache uns Kaffee. Cappuccino für dich?«
Es war typisch für Julia, diskret auszuweichen. Sie verweigerte die Antwort niemals, blieb aber stets vage, konterte mit einer Gegenfrage – genau das hatte Kates Verdacht erregt.
Und manchmal erfand Julia einfach eine Ausrede, um den Raum verlassen zu können.
»Ein Cappuccino wäre wunderbar.«
Kate blickte zu dem gekiesten Palasthof unter dem Baldachin aus Pinien und Kastanienbäumen hinüber. Etwa ein Dutzend Autos war dort geparkt, ausnahmslos dunkelblaue Audi-Limousinen mit einem Kennzeichen aus einem blauen und orangefarbenen Streifen ohne Nummer oder sonstige Angaben. Die einzige Ausnahme bildete ein alter Rolls-Royce, der dicht am Eingang stand und in majestätischem Blau glänzte. Das Nummernschild des Rolls zierte lediglich eine Krone.
Adel. Etwas ganz anderes, als einfach nur reich zu sein.
Eine Handvoll luxemburgischer Soldaten stand im Hof in der Nähe einer Gruppe von Männern in unterschiedlichen Uniformen, bei denen es sich offenkundig um die italienische Delegation handelte. Mehrere Leibwächter in schwarzen Anzügen hatten sich etwas abseits postiert und wirkten deutlich aufmerksamer als die Uniformierten.
Kate konnte den Kies unter den harten Sohlen der Wildlederschuhe des groß gewachsenen Mannes in der Uniform mit Epauletten hören, als er den Platz überquerte. Die luxemburgischen Militärs nahmen Habachtstellung an und salutierten, als er an ihnen vorbeiging, ohne stehen zu bleiben oder sie eines Blickes zu würdigen.
Das italienische Militär salutierte nicht, die Männer brachten sich lediglich in Positur, unterbrachen ihre Gespräche und sahen ihm nach, bis er die Wagenauffahrt hinaufgegangen war.
Gerade als sie sich vom Fenster abwenden wollte, fiel ihr etwas ins Auge. Im zweiten Stock, beinahe auf Augenhöhe, öffnete jemand eine hohe Tür zu einem der schmalen Balkone. Ein elegant gekleideter Mann in einem dunklen Anzug trat heraus und blickte auf die Szenerie im Hof hinab. Er zog eine Schachtel Zigaretten aus seiner Jacketttasche, klopfte eine heraus und zündete sie mit einem goldenen Feuerzeug an, ehe er sich über die steinerne Balustrade lehnte.
Der Mann war höchstens dreißig Meter Luftlinie entfernt.
Es wäre ein Kinderspiel, ihn zu erschießen, dachte Kate.
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Der Mann auf dem Balkon nahm einen tiefen Zug von seiner Zigarette und stieß eine Rauchwolke aus, gefolgt von drei perfekt geformten Kreisen.
Genau so hatte Kate es in Payne’s Bay gemacht – in einem scheinbar harmlosen Ferienhaus mit perfekter Sicht. Nur dass in Barbados ein Schuss aus knapp dreihundert Metern notwendig gewesen war, während man hier nicht einmal ein Zielfernrohr bräuchte.
»Das macht regelrecht süchtig, stimmt’s?«, fragte Julia. »Zu beobachten, was dort drüben vor sich geht.«
»Mmm«, bestätigte Kate geistesabwesend. Ursprünglich war sie davon ausgegangen, dass die Macleans die Staaten verlassen hatten, um irgendetwas zu entfliehen. Doch nun wuchs ihre Überzeugung, dass das
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