Die Frau, die niemand kannte: Thriller (German Edition)
nicht ganz allein, die Kinder waren da, aber ihr Ehemann nicht.
Wieder einmal setzte Kate sich an den Computer.
Was wäre der naheliegendste Grund dafür, sich eine falsche Identität zuzulegen? Um etwas Schreckliches zu verbergen, war ihr erster Gedanke. Etwas Unverzeihliches, Unaussprechliches, dessen einer von ihnen sich schuldig gemacht hatte. Ein Verbrechen. Mord. Er – oder sie – war zwar freigesprochen worden, doch ihr Leben war ruiniert. Deshalb hatten sie das Land verlassen.
Vielleicht hatte es auch etwas mit Wirtschaftskriminalität zu tun. Bill könnte Gelder veruntreut haben. Er könnte in seiner Funktion als Leiter der Finanzabteilung die Bücher manipuliert und den Vorstand hintergangen haben, nur um sich Straffreiheit zu verschaffen.
Oder sie war diejenige, die Dreck am Stecken hatte. Möglicherweise hatte sie eine zehnjährige Gefängnisstrafe verbüßt wegen – tja, weswegen? Bestechung eines Abhängigen? Trunkenheit am Steuer in Tateinheit mit fahrlässiger Tötung? Er hatte auf sie gewartet, weder geduldig noch treu, aber er hatte gewartet, bis sie freigelassen worden war, und dann hatten sie ihre Namen geändert und waren ins Ausland gegangen.
Kate öffnete eine Blankotabelle, in die sie Namen, Daten und kriminelle Handlungen eintragen konnte. Dann ging sie noch einmal ins Internet und recherchierte die Verbrechen, die in Chicago begangen worden waren, suchte nach Fotos von Angeklagten, Verurteilten, Freigesprochenen und Häftlingen.
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»Tut mir leid«, hatte Evan gesagt, »aber wir werden Ihre Tarnung nicht aufheben.«
Kate hatte nichts anderes erwartet. Nicht nach allem, was sie getan und gesehen hatte. In gewisser Weise war die Dauertarnung eine Wohltat und entband sie von der Entscheidung, ob sie jemandem von ihrer Arbeit erzählen sollte oder nicht. Wenn es ihr auch weiterhin verboten war, musste sie erst gar nicht darüber nachdenken.
»Verstehe. Okay.«
Evan musterte sie eindringlich. Wahrscheinlich versuchte er, das Ausmaß ihrer Enttäuschung einzuschätzen. Fehlanzeige.
»Das war’s, Kate.«
»Was war’s?«
»Wir sind fertig.«
Kate sah auf ihre Uhr. Es war halb zwölf Uhr vormittags. »Für heute?«
»Endgültig.«
»Oh.« Sie schob ihren Stuhl nicht zurück, stand nicht auf, rührte sich nicht von der Stelle. Sie wollte nicht, dass dieser Teil vorbei war. Denn wenn dieser Teil vorbei war, bedeutete dies, dass alles vorbei war. Ihre gesamte berufliche Laufbahn. »Wirklich?«
Evan erhob sich. »Wirklich.« Er streckte die Hand aus. Das bittere Ende.
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Die Straße, in der sie wohnten, machte eine leichte Biegung und endete dann abrupt, wie so viele Straßen in Europa, wohingegen die Straßen in den Staaten meist kerzengerade waren und sich meilenweit hinzogen, mit Dutzenden oder gar Hunderten von Häusern.
Vor der Rue du Rost befand sich eine Barriere, bestehend aus einer rot-weiß gestreiften Metallstange auf zwei Böcken, auf der in schwarzen Lettern RUE BARREE stand. Ein Polizist plauderte lässig mit einer Frau mit kurzer Schürze. Offenbar eine Kellnerin, die eine Zigarettenpause einlegte.
Kate ging an den Palasttoren vorbei und bemerkte, dass die Wachleute sie zwar registrierten, jedoch als harmlos einstuften. Einem von ihnen, einem jungen Mann mit gesunder Gesichtsfarbe und rahmenloser Brille, schenkte sie ein vorsichtiges Lächeln, das er jedoch nicht erwiderte. Der Parkplatz des Palastes stand voller Autos, und es herrschte reger Betrieb.
Sie überquerte die Straße und läutete.
»Komm hoch«, rief Julia durch die Gegensprechanlage.
Der Aufzug war genauso eng wie der in ihrem eigenen Haus. Es musste eine ziemliche Herausforderung für die Architekten und Ingenieure gewesen sein, Aufzugschächte in all die alten Gebäude zu quetschen.
»Willkommen.« Julia hielt mit einer Hand die Tür auf und schob Kate mit der anderen in die Wohnung. Die Geste hatte etwas Antiquiertes, Wohlerzogenes, ohne jeden Anflug von Ironie. Irgendwie seltsam. »Wie schön, dass du uns endlich einmal besuchst.«
Vorsichtig betrat Kate das Apartment. Noch immer war sie es nicht gewöhnt, mitten am Tag durch die Wohnungen fremder Leute zu spazieren. In Washington hatte sie ihr Büro während des Tages lediglich verlassen, um einen Abstecher ins Verteidigungsministerium oder auf den Capitol Hill zu machen. Wenn sie abends mit anderen Leuten ausgegangen war, hatten sie sich in Restaurants oder im Theater getroffen. In der Öffentlichkeit. Mitten am Tag mit Julia allein
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