Die Frau, die niemand kannte: Thriller (German Edition)
Waschbecken. Kleine Jungs ziehen sich häufig blutende Wunden zu. Die Geräte auf europäischen Spielplätzen sind nicht ganz so dick ausgepolstert wie auf amerikanischen. Früher hat Kate ständig versucht, in Belgien, Deutschland und Spanien Pflaster und antibiotische Salbe aufzutreiben, deshalb reisen sie inzwischen grundsätzlich mit ihrem eigenen Vorrat.
Sie durchquert das Schlafzimmer und betritt das Ankleidezimmer, wo sie einen Kofferdiener aufklappt und die Reisetasche darauf abstellt. Automatisch beginnt sie, ihre Sachen hineinzulegen. Vor Kurzem hat sie wieder einmal gezählt, wie oft sie in den vergangenen zwei Jahren ihre Sachen gepackt hat. Dreiundvierzig Mal. Und früher, in ihrem alten Leben, bevor die Kinder geboren waren? Hunderte Male.
Schließlich ist alles verstaut. Bevor sie aufbrechen, wird ihr noch einfallen, was sie nicht vergessen darf, so ist es jedes Mal, wenn sie mit dem Kopf nicht bei der Sache ist. Deshalb zieht sie den Reißverschluss der Reisetasche noch nicht zu.
Sie hat keine Ahnung, für welchen Zeitraum sie packt. Für eine Nacht, für drei. Für ein paar Wochen. Oder für immer.
Aber so hat sie es mit Dexter vereinbart. Wenn irgendjemand auftaucht oder sie das Gefühl haben, in Gefahr zu sein, packen sie für drei Tage, leichtes Gepäck, das niemandem auffallen würde. Sollte sich herausstellen, dass sie länger wegbleiben müssen, können sie immer noch alles nachkaufen, was sie brauchen. Ihr Geld würde ihnen später, irgendwo, eine gewisse Flexibilität ermöglichen, die sie im Augenblick in Paris nicht haben.
Kate nimmt den zweiten Rollkoffer, zieht ihn auf die andere Seite des Ankleidezimmers und wuchtet ihn auf Dexters Kofferdiener.
Zueinanderpassendes Reisegepäck. Sie hätte nie im Leben gedacht, dass sie eines Tages eine Frau mit einem zehnteiligen Kofferset sein könnte. Das ist noch eine Rolle, in die sie geschlüpft ist, ohne es geplant zu haben.
Kurz darauf steht sie wieder in der langen eleganten Diele, an deren Wänden Fotos ihrer Jungs hängen – beim Skifahren in den französischen Alpen, auf den Kanälen von Amsterdam und Brügge, im Vatikan, auf dem Eiffelturm, im Zoo in Barcelona, in einem Themenpark in Dänemark und auf einem Spielplatz in Kensington Gardens. Die Dielentüren stehen weit offen und geben den Blick auf die lichtdurchfluteten Räume frei.
Kate seufzt. Sie will Paris nicht verlassen, sie will hier leben. Sie will, dass ihre Kinder auf die Frage »Wo wohnst du?« mit »Paris« antworten.
Nur eine klitzekleine Veränderung, dann wäre ihr Leben hier perfekt. Sie muss etwas loswerden, sich davon befreien. Mit einem Umzug nach Bali, Tasmanien oder Mykonos ist es nicht getan. Das Problem liegt – und lag schon immer – in ihrem Inneren. In ihrer Vergangenheit. Das Problem sind die schicksalhaften Entscheidungen gewesen, die sie zu der Frau gemacht haben, die sie heute ist.
Damals, auf dem College …
Ihr fällt etwas ein. Eilig durchquert sie die Diele.
11
Kate starrte auf den Computer, der vor dem Fenster stand. Draußen herrschte dichter Nebel, lediglich durchbrochen von vereinzelten Lichtern. Düsterer Impressionismus, mit Elektrizität.
Jake und Ben saßen auf dem Boden, spielten und aßen Apfelmus. Seufzend löste Kate die Hände von der Tastatur.
»Was ist los, Mami?«
Sie sah zu Jake hinunter, blickte in seine besorgten Augen unter der unschuldigen Stirn. »Ich habe nur nach etwas gesucht, es aber nicht gefunden.«
»Oh«, meinte Ben. »Spielst du mit uns?«
Kate hatte eine geschlagene Woche nach Verbrechern gesucht, bei denen es sich um Bill und Julia handeln könnte. Vergeblich.
»Ja.« Sie klappte den Laptop zu, hörte auf, Spionin zu sein, und wurde wieder zur Mutter. »Das mache ich.«
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Der Signalton des Trockners ertönte genau in dem Moment, als Kate eine Tomate in zwei Hälften schnitt. Geistesabwesend legte sie die Tomate auf ein Stück Küchenrolle und verließ die Küche, um die Wäsche zusammenzulegen. Als sie nach zehn Minuten zurückkehrte, war der Saft der Tomate in die Küchenrolle gesickert. Der Anblick der leuchtend roten Schlieren, die durch das Zellstoffgewebe drangen, versetzte Kate in ein Hotelzimmer in New York: Auf dem Boden lag ein Toter, am Hinterkopf eine kraterförmige Wunde, aus der das Blut in den hellen Teppichboden sickerte und genau das gleiche Muster hinterließ wie der Tomatensaft auf diesem Küchentuch.
Und dann hatte sie die Frau in der Tür stehen sehen, starr vor Entsetzen,
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