Die Frau, die zu viel fühlte - Roman
Ausflüge. Seine gute Laune im Allgemeinen. Und Julie, wie aufgeregt sie war, wenn er zurückkam, wie sie auf ihn gewartet hatte. Auf und ab ist sie gesprungen.«
Wir standen auf und gingen den Weg wieder hinunter. Der Boden war uneben, und Hester hakte sich bei mir ein. Das war so weit entfernt von dem, was ich je von ihr erwartet hätte, dass ich offensichtlich leicht zurückwich und sie mich noch fester drückte.
»Wozu sind große Brüder denn da?«
Jetzt war es an mir, etwas zu sagen. »Ich schätze, seine ganze Aufmerksamkeit schenkte er uns, nicht Mutter. Aber hätten wir das bemerkt?«
»Nein, aber ihre Freude an unserem Glück hat sicher viel überdeckt. In deinem Bericht hast du etwas geschrieben, Johnny, das eigentlich alles sagt. Wie sie sich mit nacktem Busen im Spiegel anschaute und sich verzweifelt wünschte, er würde sie attraktiv finden, wie er es früher getan hatte. Das war furchtbar.«
»Ich schätze, zu der Zeit hatte es bereits andere Frauen gegeben. Hat er es ihr gesagt? Wahrscheinlich nicht. Sie hat es sicher vermutet. Da er sie nicht mehr attraktiv fand.«
Der Weg wurde ebener, und sie zog ihren Arm wieder zurück. Der Himmel war jetzt voll sich verdunkelnder Wolken, und wir beeilten uns, um vor dem Regen zu Hause zu sein. Über unsere Eltern sprachen wir nicht mehr. Das Bild blieb, eingefangen in dem, was ich über sie geschrieben hatte. Wir mussten nicht zu dem Schluss kommen, dass unser Vater absolut kein netter Mann gewesen war. Wir mussten keine Mutmaßungen darüber anstellen, inwieweit er die Verantwortung trug für das, was aus unserer Mutter geworden war. Als er verschwand, zerriss es ihr das Herz. Großen Kummer hatte er ihr die ganze Zeit bereitet, aber sie hatte wohl immer auf Besseres gehofft – ein Alter, in dem die großen Feuer gelöscht und die Kinder aus dem Haus sind, eine anständige Rente, ein paar Hobbys, Erinnerungen an den Tag, als er auf dem Weg von irgendwo zu irgendwo in den Laden ihres Vaters kam, um ein Päckchen Zigaretten zu kaufen, und sie sich auf den ersten Blick ineinander verliebten und sich ewige Liebe schworen und ihre Gefühle füreinander überschäumten. Und dann ihre Worte am Ende, als sie von dem Unfall erfuhr: »Na, dann hat er sicher nichts gespürt.«
Ich weiß, dass wir in etwa dasselbe Bild im Kopf hatten, denn als Hester den Tee brachte, stellte sie sich hinter mich ans Fenster und sagte: »Das alles könnten wir mit Julie gar nicht teilen, oder? Diesen Bericht von dir. Nichts.«
Beim Abendessen machte das, was wir so kurz miteinander geteilt hatten, die Unterhaltung sehr viel einfacher. Unsere Erinnerungen an die Kindheit hatten sich vereinigt, waren einander so ähnlich geworden, wie Erinnerungen nur sein können. Es war fast so, als hätten wir uns beide gedacht: Na ja, so viel dazu, und jetzt können wir uns anderen Dingen zuwenden.
Sie erzählte von ihrem Leben. Sie hatte in fünf Bibliotheken gearbeitet und war die letzten drei Jahre Chefbibliothekarin einer der größten Stadtbibliotheken in den Midlands gewesen. Ohne jegliche Prahlerei erzählte sie mir, wie sie die breitere Palette an Diensten, die inzwischen von Bibliotheken erwartet wurde, aufgebaut und der Bevölkerung zur Verfügung gestellt hatte. Inzwischen kamen Studenten in diese Bibliothek, um zu sehen, wie man es machte.
Offensichtlich hatte ihr das alles sehr gefallen, und sie war absolut überzeugt von der Bedeutung der Bibliotheken »als Grundpfeiler unserer Zivilisation – man geht einfach hinein und bedient sich selber am Wissen und der kreativen Phantasie der Welt«.
»Der Hauptvorteil war natürlich, dass ich deine Artikel in den Magazinen und Zeitungen lesen konnte, ohne dafür bezahlen zu müssen. Und auch deine Bücher, auch wenn sie ein wenig außerhalb unseres Durchschnittsangebots lagen, wie eine meiner Assistentinnen mir einmal sagte und dabei leise andeutete, dass es nicht gerade angemessen sei, wenn ich ein Buch von meinem eigenen Bruder bestelle. Doch in der folgenden Woche dann, haha, nachdem ein paar gute Kritiken erschienen waren, wollten drei Leser es ausleihen.«
Es war ein glücklicher Abend, und gegen Ende schaute sie mich an, als wolle sie etwas aus meinem Leben hören. Ich sagte, sie müsste sich doch ziemlich gut vorstellen können, wie es aussah: die Abgabetermine, das Geschwätz und die gesellschaftlichen Verpflichtungen und der ganze Klatsch. Sie erwartete noch mehr, aber ich hatte nicht vor, ihr freiwillig mehr zu geben.
Sie
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