Die Frau, die zu viel fühlte - Roman
so wunderbarer Tag, die Blätter verfärbten sich bereits, und aus der Gruppe Häuser unter uns stiegen schon die ersten Rauchfahnen, eine Friedlichkeit, in der das reine Zusammensein völlig genügte.
Meine Bemerkung musste Hester so vorgekommen sein, als hätte ich etwas, worüber ich reden wollte. Und so kam es, dass sie, als wir das Ende des Wegs erreicht hatten, meinte, sie sei ein wenig außer Atem, und wir setzten uns auf einen umgestürzten Baumstamm und schauten eine Weile hinunter auf die nackten, dunkelbraunen Äcker und die sanft abfallenden Weiden, auf denen ein paar Kühe grasten und zwei Pferde Kopf an Schwanz dicht beieinanderstanden und sich gegenseitig die Fliegen aus den Augen wedelten. Das hier war Hesters Umgebung, eine immer weiter sich dehnende Ruhe des Landes und des Himmels, Horizont hinter Horizont, und nicht weit weg das Meer, wo sie sich der Ewigkeit der Dinge hingeben konnte. Aber so sah das natürlich nur ich, das bukolische Schwelgen des Städters. Mit einer ausholenden Geste sagte ich etwas in dieser Richtung.
Ich hatte gar nicht bemerkt, wie sehr sie außer Atem war, und es dauerte eine Weile, bis sie antworten konnte.
»Ja, und ich schaue es mir oft an, vor allem das Kommen und Gehen des Lichts, so wie jetzt.« Und auch sie machte eine weit ausholende Geste, als wollte sie einen Schatten wegwischen. »Aber natürlich gibt es da auch eine Leere. Das Langweilige der Ewigkeit, vor allem, wenn sie Vergessen bedeutet. Eine Ewigkeit der Erinnerung, und sonst überhaupt nichts. Der gute alte Henry hätte darüber vielleicht auch etwas zu sagen.«
Die Frage kam ganz natürlich, als hätte Hester nur darauf gewartet, dass ich sie stellte: »Ich frage mich immer wieder, wie es für Mutter war. Sie muss sich erinnert haben, woran, ans Werben, ans Verlieben, an die riesige Erwartung, an diesen feschen jungen Mann, der aus dem erstickenden, provinziellen Dunst trat, oder? Sich erinnern, wie es hätte gewesen sein können …«
»Gewesen sein sollen«, erwiderte sie. »Aber was kann sie erwartet haben? Die Welt natürlich. Menschen sind eben so. Die Tochter eines kleinen Ladenbesitzers, alles andere als ein Roberts of Grantham, bestimmt wofür: Kirche am Sonntag, solider Ehemann mit seinem eigenen Laden, gute Taten, gemütliches Zuhause, wohlerzogene Kinder, in einem Wort, Mittelengland. Und Altwerden in einer nachbarschaftlichen Welt der Freundlichkeit und Würde …«
Ich unterbrach sie. »Anstand. Ich komme immer wieder darauf zurück. Er scheint für mich der Kern zu sein. Eigentlich überall. Er kann religiös sein, ist es aber oft nicht. Was er eigentlich bedeutet. Ist er ein Wert an sich, oder wie weit leitet er sich aus anderen Dingen her?«
Darauf reagierte sie nur mit einem kurzen Nicken. »Und er kam aus einer völlig anderen Welt. Großraum London. Eine kleinere Privatschule. Hast du je ein Foto von ihr als frisch Verheiratete gesehen? Die strahlende Erwartung. ›Im Glücksrausch‹ heißt das wohl. Sie war ziemlich hübsch, weißt du. Und das alles verblasste dann. Man hätte meinen können, sie hätte einfach aufgegeben.«
»Allerdings nicht uns«, sagte ich. »Ich meine, sie war eine sehr fürsorgliche Mutter. Und verletzt, als wir ihr zu verstehen gaben, dass sie zu fürsorglich sein könnte. Na ja, es war einfach Mutterliebe, schätze ich, es gibt nichts Mächtigeres.«
Ich spürte ihre Ungeduld neben mir. Wurde ich mal wieder sentimental? Oder ging es darum, dass sie Mutterliebe nie in sich selbst gespürt hatte? Wieder deutete ich über die Landschaft, die jetzt völlig im Schatten lag.
»O ja, sie war eine wunderbare Mutter«, sagte sie. »Das versteht sich eigentlich von selbst, nicht? Aber die andere Hälfte ihres Lebens, die Liebe darin, verschwand ziemlich bald, ihr Mann. Sie hätte nie sagen können: Kannst du dir nicht eine Stelle in der Zentrale suchen, damit du jeden Abend zu Hause sein kannst? Ich weiß noch gut, wie er mal sagte: ›Pech, altes Mädchen. Du hast einen Handelsreisenden geheiratet. Man verkauft nichts, wenn man nur auf seinem Hintern sitzt. Muss eben dauernd unterwegs sein. Jemand muss ja die Brötchen verdienen, um euch durchzufüttern.‹«
»Ja, ich kann mich auch erinnern, dass er so was gesagt hat. Und sie saß einfach nur da, nicht?«
»Hat ihm wahrscheinlich sogar gedankt und den Arm um ihn gelegt, um ihm zu zeigen, was für ein Glück wir mit ihm hatten. Normalerweise war er gut zu uns, wenn er da war, die Geschenke und die
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