Die Frau, die zu viel fühlte - Roman
Offensichtlich glaubte sie, Julie wäre nur eine Ausrede, und ich wollte etwas »nicht Zuschreibbares« über ihren Abgeordneten hören, das ich in meiner Kolumne verwenden konnte. Er war ein Konservativer, der zu viel über Grundprinzipien nachdachte und deshalb oft mit der Parteilinie in Konflikt kam – kurz gesagt, bestes Kommentatorenfutter.
Plötzlich schaute sie mich direkt an und schüttelte den Kopf. »Es tut mir sehr leid«, sagte sie. »Über solche Dinge kann ich einfach nicht sprechen … Ich kriege gerade erst wieder festen Boden unter den Füßen …«
Sie schaute über die Schulter, als hätte sie Angst, jemand könnte mithören.
»Bitte glauben Sie nicht …«, setzte ich an. »Es muss ziemlich beängstigend sein, nach so vielen Jahren wieder zurückzukommen. Eine Heirat, wie Sie sagten.«
»Habe ich das? Das habe ich völlig vermasselt. Ich habe die Arbeit wirklich vermisst. Jetzt bin ich mir nicht mehr so sicher. Das Landleben ist ja schön und gut. Passiert nicht viel. Es gibt so viel Bosheit und Gehässigkeit und Neid. Ich weiß auch nicht. Unverschämtheit. Lästereien. Nicht wirklich mein … Aber das kennen Sie selber …«
Sie hatte unzusammenhängend gesprochen, und jetzt fiel es ihr schwer, mich anzusehen – als wisse sie plötzlich nicht mehr, warum sie hier war.
Deshalb fragte ich geradeheraus: »Das mag Ihnen vielleicht komisch vorkommen, aber ich frage mich, ob Sie zufällig noch Kontakt zu Julie haben.«
Sie schüttelte den Kopf und entspannte sich. Sie wartete, dass ich fortfuhr. Kurz zögerte ich zuzugeben, dass ich keine Ahnung hatte, was mit ihr passiert war, dass dies vielleicht meine einzige Chance war, mehr über sie zu erfahren. Aber ich war mir sicher, dass sie nicht zu denen gehörte, die versucht waren, die eine oder andere kleine Bemerkung über John Bridgewells »verlorene Schwester« fallen zu lassen.
»Ich will ehrlich zu Ihnen sein«, sagte ich schließlich. »Ich weiß nur, dass sie nach Kanada ging, und seitdem haben meine Schwester und ich kein Wort mehr von ihr gehört. Wie vom Erdboden verschwunden.«
Sie nickte, als würde sie das nicht überraschen. »Arme Julie! Irgendwie saß sie immer in irgendeiner Patsche. Wir lernten uns kennen, als auch sie im Parlament arbeitete und ich nach jemandem suchte, mit dem ich mir eine Wohnung teilen konnte. Den Job hatte sie nicht lange, wie Sie wissen. War nicht gerade ihre Stärke, was? Diskretion und Takt und das alles.«
Ich grinste. »Julie, wie sie leibt und lebt.«
Ihre Nervosität war so gut wie verschwunden, und das schien sie zu ärgern. Sie hob mahnend den Zeigefinger. »Sie war in schlimmer Verfassung, wissen Sie. Eilte von einer Party zur anderen mit dieser Schickeria. Schreckliche Leute. All der wunderbare Spaß, den sie angeblich hatte. Meistens kam sie erst frühmorgens heim und wollte mir dann alles erzählen. Und plötzlich brach sie in Tränen aus. Man hatte sie links liegenlassen, oder es ging um irgendeinen Scheißkerl.«
Jetzt war sie zornig. Es war, als wäre ich gar nicht mehr da, und sie würde vor einem kleinen Publikum sprechen. Ich nickte wieder und murmelte: »Ich wusste es …«
»Ja, aber wussten Sie auch, wie sehr sie Sie vergöttert hat? Sie war furchtbar stolz auf Sie. Und sie schämte sich. Schämte sich, dass Sie eine so grässliche Schwester hatten. Es schade nur Ihrem Ruf und so weiter und so fort.«
Sie wartete auf meine Reaktion. Ich konnte kaum etwas hinzufügen. »Ich wusste es schon. Wenn sie mich um Hilfe bat, schwang immer sehr viel Scham und Entschuldigung mit.«
»Na ja, ich gab mir Mühe, ihr eine gute Freundin zu sein. Wir teilten uns diese Wohnung ziemlich lange. Mit Unterbrechungen. Von Zeit zu Zeit zog sie zu anderen Leuten. Kam aber immer wieder zurück zur ›guten, alten Sheila‹, wie sie mich nannte, einmal sogar ihre ›zweite Mutter‹. Ich konnte absolut nichts tun, außer ihr zuzuhören, ihre Hand zu halten und ihr ein bisschen Geld zu geben. Nichts, aber es war etwas. Und bei Gott, sie hat sich wirklich bemüht !«
»Eine neue Seite aufzuschlagen?«
»Vielleicht nicht ganz der richtige Ausdruck. Von den Drogen loszukommen, dem Alkohol. Und man sollte besser noch hinzufügen, dem Sex. Ach, übrigens, es war nicht die Grippe, die sie damals bei Ihrem Besuch hatte.«
Ich konnte mich an diesen Tag kaum erinnern. Sheila hatte sich im Hintergrund herumgedrückt, während ich an Julies Bett saß und versuchte, ein paar Sätze mit ihr zu wechseln. Aber sie
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