Die Frau, die zu viel fühlte - Roman
redete sehr wenig und blieb am liebsten in ihrem Zimmer. Sie wirkte immer ein wenig benommen, half hin und wieder im Haus oder machte lange Spaziergänge. Eines Tages erhielten sie einen Anruf von einem Nachbarn, der sagte, er hätte sie am Strand auf und ab gehen sehen, als hätte sie etwas verloren. Sie dachten, sie hätte vergessen, wie sie nach Hause kommt. Aber dann trafen sie sie auf dem Pfad, sie war bereits auf dem Rückweg, und es war, als hätte sie sie erwartet. Den Nachbarn sagten sie, sie sei eine entfernte Verwandte, die bald wieder abreisen werde. Dann hielten sie inne und schauten einander an, um sich abzustimmen, wer weitersprechen sollte. Elizabeth hatte eine Klosterschule besucht, die inzwischen ein Heim war. Einige Ordensschwestern waren dort geblieben, und sie hatte Kontakt mit ihnen gehalten.
Sie zeigte mir ein Foto, auf dem Julie zwischen ihnen in der Werkstatt steht. Es wurde vor etwa fünf Jahren aufgenommen. Es war ein schlechtes Foto, und sie war kaum wiederzuerkennen. Ihre lockigen, goldenen Haare, die ihr bis zu den Schultern gereicht hatten, waren jetzt glatt und grau und kurz geschnitten. Ihre Hand lag auf ihrer Brust, und ich erwähnte es. Die Geste habe etwas Unterwürfiges, sagte ich. »O nein«, erwiderte Elizabeth. »Eigentlich wollte sie ihr Gesicht bedecken. Sie wollte kein Bildnis von sich selbst. Einmal vergaß sie, ein Handtuch wieder wegzunehmen, das sie über den Badezimmerspiegel gehängt hatte.« Sie gaben mir das Foto, das ich hier beifüge.
Während sie mir das alles erzählten, spielte jemand in einem oberen Zimmer sehr gekonnt Geige. Es sei ihr Sohn, berichteten sie mir, der gerade seine Prüfung für die weiterführende Musikausbildung bestanden habe. Das Spiel hörte auf, und der Junge kam zu uns. Er war schüchtern und sehr höflich, streckte mir die Hand entgegen und fragte mich, ob ich eine gute Reise gehabt hätte. Sie schauten ihn mit großem Stolz an. Elizabeth legte ihm den Arm um die Schultern und bat ihn, Tee für uns zu kochen. Während er nicht im Zimmer war, baten sie mich, am nächsten Vormittag noch einmal wiederzukommen, da sei er in der Schule. Was für gute Menschen: eine natürliche, direkte Rücksichtnahme. Menschen, bei denen man im Augenblick des Kennenlernens sofort weiß, dass man ihnen absolut vertrauen kann. Weit entfernt von jenen, unter denen ich meinen Lebensunterhalt verdiene, von denen ich deswegen abhängig bin. Ich muss jetzt meinen Artikel fürs Wochenende entwerfen. Muss ich wirklich noch mehr sagen über Abgeordnetenspesen, die bevorstehende Wahl, die Finanzkrise, das Versagen der Regierung, die Schwäche der Opposition – über irgendwas …?
Nach einer stürmischen Nacht klarte das Wetter wieder auf. Bevor sie mir den Rest der Geschichte erzählten, standen wir eine Weile am Fenster und schauten aufs Meer hinaus, das wieder ein wenig aufgewühlt war und von der Sonne beschienen, aber auch von dunklen Flecken durchzogen, da der Wind die Wolken schnell darüberwehte. Sie sagten, dass Julie oft hier stand und ab und zu auf die Spaziergänger und Badenden und die spielenden Kinder deutete. Ihre Lippen bewegten sich dabei, und sie schien mit ihnen zu reden, sie zu ermutigen. Aus ihrem Zimmer schaute sie stundenlang hinaus. Wenn sie ausgingen, sahen sie sie oft am Fenster stehen und winkten dann, aber sie reagierte nie.
Wir saßen vor dem Feuer, sie boten mir Kaffee an und erzählten mir den Rest. Nach drei Monaten erkannten sie, dass Julie schwanger war. Sie wurde noch geistesabwesender und distanzierter als sonst. Manchmal saß sie lesend bei ihnen, und ihre Hände ruhten auf ihrem Bauch. Es war, als wollte sie ihr Kind vor der Welt beschützen. Aber welche Welt war das? Die Bücher, die sie las oder anschaute, drehten sich vorwiegend um Kunst. Sie studierte die Illustrationen, fuhr die Umrisse manchmal mit dem Finger nach oder bewegte das Buch, um einen besseren Lichteinfall zu bekommen. »Wenn sie das tat, wirkte sie besonders zufrieden«, sagte Elizabeth. »Stundenlang konnte das gehen. Na ja, es ist eine unendliche und wunderschöne Welt, nicht, da kann man gut sein Leben drin verbringen.« »Das«, fügte Gerald hinzu, »und das Musikhören …« »Eine Art ewiger Überfülle«, sagte Elizabeth.
Sie tat alles, was sie von ihr verlangten, sofort und ohne Murren. Sie putzte und wusch das Geschirr und konnte einige einfache Gerichte kochen. Sie sagte kaum mehr als »ja« und nickte. Lob bedeutete ihr wenig, dennoch erwartete
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