Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Frau, für die ich den Computer erfand

Die Frau, für die ich den Computer erfand

Titel: Die Frau, für die ich den Computer erfand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Christian Delius
Vom Netzwerk:
herausstreckt, das bekannteste Einstein-Foto überhaupt. Und warum, haben Sie mal darüber nachgedacht? Verstehen Sie die Geste? Verstehen Sie, was er mit seiner rausgestreckten Zunge sagen will? Er will in Ruhe gelassen werden, von Reportern, von Neugierigen, von Neunmalklugen, von sogenannten Fans. Von all diesen Leuten, die seiner Berühmtheit hinterherjagen, aber sonst nichts von ihm begreifen. Und sich nicht mal die Mühe machen, ihn begreifen zu wollen. Er wehrt sich, richtig schön unverschämt wehrt er sich   … Und auch ich wehre mich, auf meinem schlichten Niveau, versteht sich, ich will mich mit ihm in keinster Weise vergleichen, wirklich nicht   … Ich seh schon,
in keinster Weise
werden Sie mir streichen, das werden Sie mir in keinster Weise durchgehenlassen, wetten?   … Was ich sagen wollte, auch ich muss mich wehren – gegen Oberbürgermeister und ihre Sätze, gegen Studenten und ihre Sätze, gegen das Drei-Minuten-Gestümper im Radio. Gegen das Geschwätz über technische Fragen ohne technische Kenntnisse in den Schwatzrunden im Fernsehen. Gegen die Honoris-causa-Sätze in den Urkunden, die ich alle schon auswendig kenne   … Ich strecke zwar nicht die Zunge raus, ich kann ja schlecht Einstein kopieren. Aber dass ich gestern nicht nach Braunschweig gefahren bin und mich nicht mit diesem neuen Hut fotografieren lasse, mit dem sie nur meine Berühmtheit dekorieren, um selber in die Zeitung zu kommen, auch wenn sie sonst wahrscheinlich herzlich wenig von mir begreifen, und mich mit Wein füllen, den ich gar nicht trinken sollte, und mit Süßspeisen, die ich gar nicht essen sollte, und dass ich stattdessen hier bei Ihnen sitze, das ist meine Art des Zungerausstreckens. Und dass ich Ihnen und Ihrem Mikrofon hier eine lange, lange Rede halte und eigentlich eine viel zu kurze Rede halte, was sind schon zehn, zwölf Stunden verglichen mit einem langen, langen Leben, ein Arbeitstag verglichen mit acht Jahrzehnten. Was wollte ich sagen   … Ja, eine solche kleine Rede hätte ich in Braunschweig nie hätte halten dürfen und an keiner Technischen Universität der Welt, die kann ich vielleicht nur hier oben auf dem Stoppelsberg halten   … Nehmen Sie unser Gespräch als meine Art, Ätsch! zu sagen. Und dass ich Ihnen erkläre,warum ich nicht nach Braunschweig gefahren bin und warum ich endlich mal alles ganz anders erzählen will und so erzählen will, wie es wirklich gewesen ist und wie ich mit dem Faust in meiner Brust umgesprungen bin und wie mit Ada, genau das ist meine Art, dem Rest der Welt die Zunge rauszustrecken. Die Leidenschaft hab ich noch, die Begeisterung für die Erfinderei, das spüren Sie hoffentlich, aber ich will kein Schauspieler mehr sein, ich will diese Rolle des Erfinders nicht mehr spielen, erst recht nicht vor einem ehrfürchtigen Doktorhutverleihungspublikum. Ich will kein Darsteller sein, kein Mime meiner selbst, verstehen Sie?   … Einstein hatte es schwerer, er war seit seiner Jugend berühmt. Deshalb hat er keine Memoiren geschrieben. Ich konnte meine schreiben, gerade weil ich nicht berühmt war. Und weil ich eine Wut im Bauch hatte, weil niemand meine Leistungen kannte und die Rheinmetall- und die Siemens-Herren mich elegant und eiskalt aus meiner Firma geschmissen hatten, ich sag’s mal etwas ungerecht. Die Wut hab ich mir damals verkniffen. Da sehen Sie wieder, Memoiren sind nur die halbe Miete. Da wirft man sich in Pose, da referiert man brav seine Erlebnisse, man gibt sich keine Blöße und schreibt nichts Böses über andere und nichts Peinliches über sich. Man streckt jedenfalls nicht frech die Zunge raus, damit die Balance wieder stimmt. Es war nie meine Stärke, Aggression rauszulassen, ich kann das auch heute nicht, nie habich ein Manager-Trainingsprogramm in der Wildnis absolviert: Wie mache ich meine Aggression produktiv für Ego und Karriere? Oder so ähnlich. Also bleibe ich maßvoll und höflich und zeige heute nur ein bisschen die Zunge   …

(Die Neukirchen-Schiene)
     
     
     
    Richtig, wir waren bei den Schweizern. Aber drängeln Sie mich bitte nicht, nur weil Sie jetzt müde werden. Wir hätten vielleicht doch eine Kanne Kaffee bestellen sollen für die Nacht, oder Tee, wenigstens Tee. Wann wir aufhören, das bestimme ich, das ist der Vertrag, und meine Zunge ist noch lange nicht müde   … In aller Nüchternheit könnte ich sagen: Auch das war wie ein Märchen, ein Märchen mit einem guten Anfang und einem guten Ende. Es war einmal ein

Weitere Kostenlose Bücher