Die Frau im Rueckspiegel
wollte ich endlich mal was von der Welt sehen. Also suchte ich mir einen Job im Ausland. Aus einem Jahr wurden zwei, aus zwei vier, fünf und sechs. Und so weiter. Vor zwei Jahren kam ich zurück. Ich habe viel gesehen, aber weder eine abgeschlossene Ausbildung noch zugehörige Berufserfahrung. Tja, so wird man Kurierfahrerin.«
»Wie haben Sie sich im Ausland finanziert?«
»Ich war Küchenhilfe auf einer Bohrinsel vor der amerikanischen Küste, Pizzabotin in New York, Englischlehrerin in einem Dorf in Südafrika, Animateurin auf Ibiza, Reisebegleiterin in Marokko . . . all so was eben.«
»Beeindruckend«, entschlüpfte es Rebecca. Eigentlich hatte sie nur nicken wollen.
»Finden Sie?« fragte Christiane zweifelnd. Das konnte Rebecca doch unmöglich imponieren. Eine Frau, die sich mit Gelegenheitsjobs durchs Leben schlug.
»O ja.« Rebecca zögerte. Das Gespräch hatte eine unerwartete Wendung genommen, war sehr persönlich geworden. Für gewöhnlich mochte sie das nicht. Aber Christianes Erzählung machte sie neugierig. Und nachdenklich. Rebecca gestand sich ein, keine Ahnung gehabt zu haben, wer sie da jeden Tag chauffierte. Sie hatte Christianes Spontaneität, deren unkonventionelle Art bisher zwar nicht als lästig, doch mindestens als störend empfunden. Von einer positiven Seite ganz zu schweigen.
Aber wie hätte sie an Christianes Stelle gehandelt? Hätte sie den geplanten Weg verlassen? Ihr Studium aufgegeben, um für jemanden zu sorgen? Nein. Sie hätte sich gesagt, dafür gebe es Einrichtungen, die das besser könnten als sie selbst! Sie hätte die Verantwortung anderen übergeben, Christiane übernahm sie selbst. Das veranlaßte Rebecca dazu zu sagen: »Wie Sie die Dinge anpacken, das ist ungewöhnlich. Und es ist sehr mutig, sich auf diese Art in der Welt durchzuschlagen. Vielleicht auch etwas leichtsinnig, denn wenn Sie krank geworden wären oder einen Unfall gehabt hätten . . . aber ich nehme an, so denken Sie nicht.«
Christiane lächelte. »Nein, damals nicht. Das wäre auch nicht hilfreich gewesen.«
»Warum sind Sie nach Deutschland zurückgekommen?«
»Irgendwann ist man einfach zu alt für dieses Umhergeziehe.«
Rebecca lachte laut auf. »Zu alt? Sie sind doch höchstens fünfunddreißig. Und warum landet man ausgerechnet in Bremerhaven?«
Christiane zuckte mit den Schultern. »Hier endete die Kreuzfahrt, bei der ich als Servicekraft an Bord war.«
»Und hier wollen Sie nun seßhaft werden?«
»Diese Stadt ist so gut wie jede andere. Ich habe meinen alten Sport wiederaufgenommen und durch den Klub gute Freundinnen gefunden. Und das ist doch das Wichtigste. Oder? Das war etwas, was mir auf meinen Reisen fehlte. Natürlich traf ich jede Menge Leute, aber für Freundschaften reichte die Zeit selten. Und wenn doch mal eine entstand, trennten sich die Wege bald darauf wieder.«
»Dann ist Ihr Sportclub so etwas wie Ihre neue Familie?«
»Ja.«
»Was ist mit Ihrer Schwester?«
»Meine Schwester lebt achthundert Kilometer entfernt, ziemlich am entgegengesetzten Ende Deutschlands. Wir sehen uns sehr selten, telefonieren gelegentlich.«
»Das überrascht mich. Nach dem, was Sie für sie getan haben, nahm ich an, Sie beide hätten ein sehr enges Verhältnis zueinander.«
»Und daß daraus mein Glaube an das Gute im Menschen entspringt? An gegenseitige Aufopferung und Dankbarkeit?« Christiane verzog erneut spöttisch den Mund. Rebecca kam es langsam so vor, als wenn Christiane ihre Gedanken las.
»Meine Schwester dankt mir, indem sie ihr eigenes Leben lebt«, sagte Christiane schlicht. »Was sollte sie auch sonst tun? Nach dem Tod meiner Eltern nahm ich deren Platz ein, weil ich es für das Richtige hielt. Damit habe ich mir kein Anrecht auf meine Schwester erworben.«
»Aber Sie haben Ihre Karriere für sie aufgegeben.«
»Welche Karriere?«
»Das Studium, den späteren Job. Sie hätten viel mehr erreichen können.«
»Viel mehr, als Ihre Fahrerin zu sein?« Christiane grinste. »Ich glaube, das ist die anspruchsvollste Aufgabe in Ihrem Unternehmen. Was man so hört«, witzelte sie.
Rebecca schüttelte den Kopf. »Ich verstehe Sie nicht.«
»Das sehe ich. Dabei sagt man Ihnen nach, eine intelligente Frau zu sein. Es ist doch ganz einfach: ich bin zufrieden mit meinem Leben, so, wie es ist. Wie es weitergegangen wäre, wenn ich mein Studium abgeschlossen hätte, ob ich Karriere gemacht hätte? Niemand kann das wissen. Soll ich einer Möglichkeit nachtrauern, die vielleicht
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