Die Frau in Rot: Roman (German Edition)
dieselbe, die gestern nach einer Désirée gerufen hatte. Aber ein Mann konnte seine Stimme natürlich auch verstellen. Doch wieso sollte Max so etwas tun? Um sie zu ängstigen? Möglich, aber aus welchem Grund?
»Tut mir leid, wenn ich dich erschreckt habe«, sagte er und zog eine Rolle aus seinem Rucksack. Er entfernte das Gummiband und befestigte das Plakat anschließend mit vier Reißzwecken an einem Holzschild, an dem bereits andere Ankündigungen hingen. »Wir führen demnächst ein Theaterstück im Schlosshof auf«, fügte er hinzu und wies mit dem Kopf auf den Anschlag. »Laienspieltruppe.« Er grinste.
Anouk nickte. »Verstehe. Nun denn, ich muss wieder zurück. Meine Großtante macht sich sonst Sorgen.«
Sie drehte sich um und wollte lostraben, doch Max griff nach ihrem Arm und hielt sie fest.
»Anouk, noch eine Frage.«
»Ja?«
»Möchtest du eventuell bei uns mitmachen?«
»Bei eurer Theatergruppe?« Sie lächelte belustigt.
»Wäre doch eine Abwechslung. Eine unserer Schauspielerinnen hat sich letzte Wochen den Fuß gebrochen und fällt deshalb aus. Wenn du Lust hast, kannst du ihre Rolle übernehmen. Sie ist nicht besonders groß … ich meine die Rolle, nicht die Frau«, stammelte er und lachte dann.
Anouk seufzte. Sie hatte kein schauspielerisches Talent, obwohl sie beim Modeln oft in verschiedene Rollen schlüpfen musste. Oder sollte sie es einfach versuchen? Was hatte sie schon zu verlieren? Sie langweilte sich doch jetzt schon zu Tode. Vielleicht würde das Theaterspiel tatsächlich etwas Abwechslung in das öde Landleben bringen.
Max hatte vermutlich ihre Gedanken erraten, denn er beugte sich vor und murmelte verschwörerisch: »Komm einfach mal vorbei und sieh es dir an, einverstanden? Wenn’s dir nicht zusagt, dann lass die Finger davon. Aber womöglich gefällt es dir ja. Ich würde mich freuen.«
Er lächelte und blickte sie treuherzig an. Was für schöne braune Augen dieser Mann doch hatte.
»Na gut«, erwiderte sie nach einer Pause, »ich sehe es mir mal an. Aber versprechen kann ich nichts.«
»Fabelhaft!« Er strahlte. »Ich hole dich heute Abend um sechs ab. Jetzt muss ich los, meine Praxis öffnet gleich.«
»Was, heute Abend schon?«
Sie hob abwehrend die Hand, aber er hatte sich schon umgedreht und war zwischen den Bäumen verschwunden.
Anouk drehte sich um und ging kopfschüttelnd den Weg zurück. Sie horchte auf das Geräusch eines wegfahrenden Autos, doch alles blieb ruhig. Wie zum Henker war Max zum Schloss gekommen?
Vom Kirchturm schlug es Viertel vor acht, und Max trat stärker in die Pedale. Er verfluchte seinen Wagen, der heute Morgen schon wieder nicht angesprungen war. Er konnte sich zurzeit keinen neuen leisten und hoffte, dass die Kiste noch ein paar Jahre ihren Dienst tun würde. In Momenten wie diesen bereute Max es manchmal, dass er Zürich samt seinen betuchten Patienten verlassen hatte. Doch als er in die Hauptstraße einbog und den Hallwilersee zwischen den beiden grünen Hügelzügen liegen sah, verflog der Gedanke sofort wieder. Diesen Anblick konnte keine noch so florierende Nobelpraxis aufwiegen.
Seine Gedanken schweiften zu seiner vorherigen Begegnung mit Anouk zurück, die ihn im ersten Moment angestarrt hatte, als hätte sie einen Geist erblickt. Irgendetwas stimmte nicht mit ihr, obwohl der gestrige Abend bei ihrer Großtante äußerst entspannt verlaufen war. Doch Max spürte, dass irgendetwas die junge Frau stark beschäftigte. Und vorhin hatte es fast den Anschein gehabt, als würde sie mit ihm darüber sprechen wollen. Im letzten Moment aber hatte sie sich wieder in eine verschlossene Auster verwandelt. Das war nicht gut. Obwohl Max kein Fachmann für die Diagnose und Therapie von Unfallopfern war, war er überzeugt, dass Anouk Morlot eine schwere Last mit sich herumtrug. Eine ähnlich schwere Last, wie er sie selbst einmal getragen hatte. Max biss sich bei dieser schmerzlichen Erinnerung auf die Lippen.
Schloss Hallwyl, Juni 1743
Die Spielleute stimmten ein Menuett an, und die anwesenden Damen klatschten begeistert in die Hände. Johannes führte Amandine aufs Parkett, verbeugte sich und reichte seiner strahlenden Schwiegermutter die Hand. Bernhardine setzte sich auf ihren Brautstuhl, der mit weißem Damast und Rosen geschmückt war, und atmete auf. Eine kurze Pause würde ihr guttun. Sie fächelte sich Luft zu und schauderte, als ihr der Schweiß den Rücken hinunterlief. Sie spürte ein Brennen im Nacken und wandte den Kopf.
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