Die Frau in Rot: Roman (German Edition)
nach Aarau, Basel und Zürich. Anouk kam sich ein wenig wie eine Schülerin vor, die den Unterricht schwänzte und sich einen schönen Tag machte. Sie musste einen Moment am Straßenrand warten und dachte plötzlich an das kleine, rothaarige Mädchen, das sie am Tag ihrer Ankunft gesehen hatte. Hoffentlich war es noch gut nach Hause gekommen.
Sobald Anouk den Feldweg zum See erreicht hatte, fiel sie in einen leichten Trab. Unbewusst schlug sie den Weg zum Schloss ein. Obwohl der Uferweg vom nächtlichen Wolkenbruch aufgeweicht und voller Pfützen war, legte sie an Tempo zu. Eine unerklärliche Unruhe hatte sie mit einem Mal ergriffen. Ein Gefühl, als würde ihr etwas entgehen, wenn sie nicht so rasch wie möglich zum Anwesen derer von Hallwyl gelangte. Normalerweise war sie gut in Form, doch der Gewichtsverlust, der viele Alkohol und die Zigaretten forderten ihren Tribut. Schon nach kurzer Zeit bekam sie Seitenstechen, und ihr wurde schwindlig. Sie lief etwas langsamer und versuchte, gleichmäßiger zu atmen. Eine Ratte huschte knapp vor ihren Füßen über den Weg und verschwand im Schilf. Anouk fuhr erschrocken zurück. Gott, sie hasste Ratten wie die Pest! Was für widerliche Tiere. Nach weiteren zehn Minuten sah sie die ersten Zinnen der Schlossmauer. So früh am Morgen befanden sich noch keine Touristen auf dem Gelände. Auch die Sonne hatte ihren Weg durch den dichten Baumbestand noch nicht gefunden. Der gekieste Vorplatz lag in bläuliches Licht getaucht. Erst um die Mittagszeit, wenn die Sonne im Zenit stand, würde es hier hell werden.
Anouk stoppte, beugte sich vornüber und versuchte, wieder zu Atem zu kommen. Schweiß lief zwischen ihren Brüsten hinab. Ein Königreich für ein Handtuch!
Sie trat zur Bank, die vor dem Burggraben stand, und begann, ihre Beinmuskulatur zu dehnen. Eine Ente lief schnatternd und flügelschlagend übers Wasser und erhob sich in die Luft. Ab und zu sprang eine Forelle aus dem Tümpel und schnappte nach einem Insekt.
Anouk lächelte. Sie hatte beinahe vergessen, wie schön es im Seetal war. Auch die seltsame Unruhe war schlagartig von ihr abgefallen. Vermutlich war diese nur eine letzte Nachwirkung ihres gestrigen Weinkonsums gewesen.
Oh, ist ein Mann schon schlimm und dumm,
und geht von hohem Alter krumm;
Hat er nur Geld und keine Erben;
So will er nur getrost und kühn,
um meine Liebe sich bemühn,
und bei den Eltern um mich werben.
Anouks Kopf schoss in die Höhe. Es war dieselbe Frauenstimme wie gestern! Ihre Nackenhaare richteten sich auf. Fieberhaft drehte sie sich in alle Richtungen, konnte weit und breit aber keine Menschenseele entdecken. Ihr Herzschlag verdoppelte sich. In ihren Ohren rauschte das Blut, und ihre Kehle lechzte nach einem Schluck Wasser.
»Hallo!«, krächzte sie. »Ist da jemand?«
Doch es war nur das Plätschern der Wellen zu hören, die sich an den Mauern des Schlosses brachen. Die Vögel waren verstummt, ein paar wenige Enten kauerten nahe der Schleuse. Selbst die Krähen hockten regungslos in den Eichen entlang des Ufers. Sie sahen wie überdimensionale Tannenzapfen aus. Unvermittelt roch es nach Rosen und etwas anderem, das ihre Großtante zum Kochen verwendete. Nelken? Anouk wagte kaum zu atmen. Die Härchen auf ihren Unterarmen stellten sich auf, ein kalter Schauer lief ihr über den Rücken.
»Ich finde das überhaupt nicht witzig!«, schrie sie und drehte sich im Kreis herum. »Absolut nicht! Sollte sich also jemand einen Scherz mit mir erlaubt haben, sei ihm hiermit gesagt, dass er gelungen ist! Ha, ha! Ich lach mich tot!«
Ihre Stimme überschlug sich. Sie fror plötzlich entsetzlich und schlang die Arme um ihren Körper.
»Anouk? Was tust du denn hier?«
Sie wirbelte so schnell herum, dass sie aus dem Gleichgewicht geriet.
»Max?«, keuchte sie. »Gut, dass du kommst. Ich habe …«
Anouk brach ab. Wollte sie dem Arzt ihrer Großtante wirklich erzählen, dass sie körperlose Stimmen hörte?
»Du hast was?« Max kam näher und sah sie erwartungsvoll an.
»Ach, nichts«, erwiderte sie und trat einen Schritt zurück. »Wie kommt es überhaupt, dass du hier bist?«
Sie strich sich über die Stirn und fühlte kalten Schweiß.
»Ich hänge Plakate auf«, sagte er und wies auf eine Reihe von Rollen, die in dem Rucksack steckten, den er in der linken Hand hielt.
Anouk musterte zuerst die Plakate, dann Max’ Gesicht. Seine Erklärung klang überzeugend. Überhaupt war es eine Frauenstimme gewesen, die sie gehört hatte. Genau
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