Die Frau mit dem Muttermal - Roman
Grenzland zwischen Schlaf und Wachen, sah er es plötzlich vor sich. Das neue Sinnbild seiner Angst. Einen Dreizack.
20
Rooth war früh losgefahren und somit bereits um zwölf Uhr in Schaabe. Da das erste Gespräch erst zwei Stunden später angesetzt war, gönnte er sich ein ausgedehntes, opulentes Mittagsmahl im Bahnhofsrestaurant, bevor er weiterfuhr zur Stabsschule.
Hauptmann Falzenbucht war ein dünner kleiner Herr mit einer eigenartig leisen, knarrenden Stimme. (Er hatte wohl zu lange auf dem Kasernenhof gestanden und herumgeschrien, wie Rooth vermutete.) Er hatte die sechzig bereits vor ein paar Jahren hinter sich gelassen und sollte eigentlich seinen wohlverdienten Ruhestand genießen, aber – wie er mehrfach betonte – solange die Schule seine Dienste brauchte, war es natürlich seine Pflicht anzutreten. Als guter Soldat. Als Mann. Als Mitbürger.
Als Mensch?, überlegte Rooth.
Sicher, natürlich konnte er sich an die Abgangsklasse von 1965 erinnern. Das war seine zweite Truppe als Unteroffizier gewesen, und als Rooth das Foto herausholte, begann er ohne zu zögern mehrere Männer mit Namen zu benennen.
Er hat jedenfalls seine Hausaufgaben gemacht, dachte Rooth, dessen militärische Karriere an so einem Tag in keinem besonders hellen Licht dastand. Übrigens auch an einem anderen Tag nicht. »Also, es sind in erster Linie Malik und Maasleitner, für die wir uns interessieren. Können Sie sie mir zeigen?«
Falzenbucht tat das.
»Sie wissen sicher, was vorgefallen ist?«
»Natürlich«, knarrte Falzenbucht. »Ermordet. Böse Geschichte.«
»Wir haben mit allen anderen bereits gesprochen«, sagte Rooth.
»Leben die alle noch?«, wunderte Falzenbucht sich.
»Nein, aber wir haben die aufgespürt, die noch leben. Keiner
kann irgendeinen Zusammenhang zwischen Malik und Maasleitner sehen, und keiner hat auch nur die geringste Idee, was dahinterstecken könnte.«
»Ich verstehe«, sagte Falzenbucht.
»Fällt Ihnen irgendwas ein?«
Falzenbucht sah aus, als würde er intensiv nachdenken.
»Hmm. Wundert mich nicht, dass keiner eine Idee hatte. Das hier hat nichts – auch nicht das Geringste – mit der Schule oder der Ausbildung zu tun. Das würde ich sagen.«
»Wie können Sie das wissen?«, fragte Rooth.
»Dann hätten wir was gemerkt.«
Rooth dachte einige Sekunden über diese militärische Logik nach.
»Was man nicht sieht, das gibt es nicht?«, fragte er dann.
Falzenbucht antwortete nicht.
»Was meinen Sie, worum es geht?«
»Keine Ahnung. Aber Sie werden es schon herausbekommen.«
»Deshalb bin ich hier.«
»Ja, sicher. Hrrrm.«
Einen kurzen Moment lang spielte Rooth mit dem Gedanken, härtere Bandagen anzulegen. Am liebsten hätte er diesen kleinen, knurrenden Feuerhaken ins Auto gestopft und ihn in so einer stinkigen Zelle auf dem Polizeirevier von Schaabe verhört, aber seine gute Urteilskraft siegte und ließ es ihn bleibenlassen.
»Gibt es etwas«, fragte er stattdessen, »irgendetwas, was Sie mir sagen können und von dem Sie glauben, es könnte uns bei unseren Ermittlungen helfen?«
Falzenbucht strich sich mit Daumen und Zeigefinger über seinen gepflegten Schnurrbart.
»Das war keiner aus der Gruppe«, sagte er. »Das sind alle feine Jungs. Der Mörder kommt von außen.«
Der böse Feind vielleicht?, dachte Rooth. Er seufzte diskret und schaute auf die Uhr. Es war noch mehr als eine halbe
Stunde bis zum nächsten Termin. Er beschloss, höchstens noch fünf Minuten für Falzenbucht zu opfern, um noch Zeit für eine Tasse Kaffee zu haben, die er sich in der Kantine der Stabsschule genehmigte.
Major Straade wies ungefähr den doppelten Körperumfang von Falzenbucht auf und besaß außerdem ein eher ziviles Auftreten, aber für die Ermittlungen war seine Aussage genauso wertlos. Wie der Hauptmann neigte er zu der Ansicht, dass das Motiv außerhalb der Kasernenmauer zu finden sei – also der nunmehr geschlossenen Kaserne in Löhr am Rande von Maardam.
Irgendwas, das außerhalb des Unterrichts passierte. In der Freizeit der Rekruten. In der Stadt. Wenn es denn überhaupt einen diesbezüglichen Zusammenhang gab. Wusste man das so genau? War das sicher? Wieso bildete man sich eigentlich ein, dass die Stabsschule damit etwas zu schaffen hatte?
Das waren Fragen, auf die Straade immer wieder zurückkam.
Als Rooth wieder in seinem Auto auf dem Parkplatz saß, versuchte er, diese Mutmaßungen und Meinungsäußerungen zu bewerten, aber es war natürlich nicht einfach zu
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