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Die Frau mit dem roten Tuch

Die Frau mit dem roten Tuch

Titel: Die Frau mit dem roten Tuch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jostein Garder
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ewig gekannt zu haben. Es liegt daran, dass ich an ihr so viel von dir wiedererkenne. Wir sind wie Kinder dort draußen. Wir gehen zu Eides Laden und kaufen Eis und Bonbons. Abends liegen wir in unseren Betten in dem blauen Zimmer und unterhalten uns flüsternd darüber, was wir an einem langen Sommertag alles gesehen und erforscht haben.
     
    Es gibt zwei Geschichten, um die sich alles dreht, meine eigene und die des gesamten Universums, aber diese beiden Geschichten verschwimmen miteinander, denn ich würde nun mal keine Geschichte haben, wenn das Universum nicht seine hätte. Ich habe außerdem mein halbes Leben damit verbracht, die Geschichte des Universums zu studieren, und ohne mich hätte das Universum keinerlei Bewusstsein seiner Verdienste mehr. Denn eine andere Erinnerung als meine gibt es nicht mehr.
     
    Ich werde noch eine Weile in dem Raumschiff sitzen und die Geschichte des Universums und der Erde wie in einer kosmischen Kavalkade an mir vorüberziehen lassen, bevor in einigen Stunden die Ära der Erinnerung und des Bewusstseins unwiderruflich zu Ende sein wird. Und während ich diese Gedanken denke, für unendlich viel mehr denke als nur für mich selbst, befinde ich mich wirklich in diesem Raumschiff, ist es nicht wie oft in unseren Träumen, wenn wir in einen Zustand zwischen Wachen und Schlafen geraten und zwar begreifen, dass wir träumen, aber davon unbeeinflusst weiterträumen. Ich bin in diesem Raumschiff, nachdem ein gewaltiger Asteroid den Planeten unter mir getroffen hat, ich weiß noch jedes Detail im Cockpit, als die Katastrophe geschah, sehe noch die Monitore vor mir und sehe Jeff und Hassan, ich kenne sie so gut, besser als jeden anderen Menschen, sehe die Züge und Zuckungen in den Gesichtern der beiden. Wir waren viele Stunden in dem engen Raumschiff zusammen, jetzt hängen sie leblos in ihren Sitzen.
     
    Das alles erlebe ich sozusagen doppelt, denn ich kann mich zugleich aus dem Raumschiff entfernen und mit dir zusammen an unseren alten Orten sein. Es muss sich um eine Art Erlebnisse außerhalb des Körpers handeln. Das alles muss reichlich unlogisch klingen, ich weiß. Aber wenn wir zusammen in der Normandie sind, sind wir wirklich dort. Wenn wir unter dem Felsen auf der Hardangervidda sitzen und gebratene Forelle essen, dann tun wir das wirklich, denn ich kann auch den Geruch des gebratenen Fisches abrufen. Zwischen damals und jetzt hat es kein Leben gegeben, es gibt keine chronologische Zeit, nur ein Kontinuum, eine Ewigkeit wie eine riesige Schale, aus der kleine Mosaikstücke genommen werden können, oder nein, die Mosaikstücke sind aus buntem Glas und liegen eingekapselt in einem Kaleidoskop, in das ich von hier oben vom Raumschiff aus schaue. Ich kann mir aussuchen, auf welches Stück Erinnerung ich mich konzentrieren und was ich wiedererleben will.
     
    Dann stelle ich mir plötzlich vor, dass du noch lebst, da unten, unter der dicken Decke aus Ruß und Staub und Asche. Mir geht auf, dass du ja die einzige Überlebende sein könntest. Die Logik des Traums will es so, besser gesagt, deren für Träume typisches Fehlen. Ich stelle mir vor, dass du mir nach unten helfen musst. Du könntest überlebt haben, weil du in einem der tiefen Tunnel in Westnorwegen Zuflucht gesucht hast. Nur du kannst mich aus dem Weltraum zurückholen. Bald werde ich in einen Fjord unter dem Jostedalsbreen fallen, und du wirst die Raumkapsel öffnen, wenn sie mitten im Fjord an der Wasseroberfläche dümpelt. Im Traum erscheint das ganz einfach, du kannst das Ruderboot nehmen und mich holen.
    So erlebe ich unsere Fahrt mit dem Ruderboot über den Fjord noch einmal. Wir haben uns bei der alten Scheune am anderen Ufer ins Gras gelegt und uns gesonnt. Auf dem Rasen vor dem Hotel wolltest du dich nicht oben ohne sonnen. Es ist warm, sicher zwanzig Grad, wir haben eine Flasche Limonade zum Abkühlen ins Wasser gelegt. Als wir zurückrudern, sehen wir die beiden Tümmler, die von Balestrand her durch den Fjord geschwommen kommen. Sie umkreisen einige Male unser Boot, und wir haben Angst, aber schließlich ziehen sie weiter.
     
    Ich drehe Runde um Runde um den schwarzen Planeten. Es schmerzt mich über die Maßen, dass es nur noch wenige Stunden dauern wird, bis das Universum kein Seelenleben mehr besitzt. Ich falte die Hände und bete zu einem Gott, an den ich nicht glaube: Bitte, mach alles wieder rückgängig! Bitte, gib mir noch eine Chance! Kann die Welt nicht noch eine einzige Chance

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