Die Frau ohne Gesicht
Maschinengewehr. Es hatte dem Täter nicht genügt, die Frau zu töten. Die Schüsse hatten Teile ihres Körpers abgerissen, was allem Anschein nach beabsichtigt war.
Vergleichbare Mordtaten seien in der gesamten britischen Kriminalgeschichte eine Seltenheit, erklärte der müde wirkende Peter Gerrish in einem Interview der BBC , das gegen Mitternacht geführt wurde. Der Kopf des Opfers war durch die Einschüsse abgetrennt worden, die den Hals und die Wirbelsäule zerfetzt hatten. Die Tat war laut und blutig gewesen.
Lia spürte eine Welle der Übelkeit – wie damals nach der Ermordung der Lettin.
Die Medien gruben auch den Fall der Frau ohne Gesicht wieder aus.
Mal sehen, wie lange The Sun braucht, um einen Namen für das zweite Opfer zu finden, dachte Lia. Es dauerte nicht lange. Um 00.36 Uhr erschien auf der Website die erste Nachricht, in der die Tote als »Die Kopflose« bezeichnet wurde.
Um drei Uhr nachts ging Lia schlafen. Sie hatte keine Kraft mehr, sich weitere Übertragungen von Ludgate Hill anzuschauen.
Am nächsten Morgen schien ganz London nur ein Gesprächsthema zu kennen: Die Frau ohne Kopf und die Frau ohne Gesicht. Die beiden Frauen, die jeweils ermordet im Kofferraum eines Wagens in der Londoner City gefunden worden waren. Die Verbrechen waren so ungewöhnlich, dass die Reporter sich mit ihren Metaphern übertrumpften. Der Kommentator des Frühstücksfernsehens der BBC sprach von einer »neuen Epoche der Brutalität«, und diese Formulierung wurde in allen Nachrichten aufgegriffen.
Für die Berichterstatter stand fest, dass ein Serienmörder sein Unwesen trieb, da die Polizei erklärt hatte, es gebe Übereinstimmungen zwischen den Fällen. Welcher Art sie waren, wurde aus ermittlungstechnischen Gründen nicht präzisiert.
»Schwer zu glauben, dass es sich um einen Serienmörder handelt«, sagte Mari am Telefon zu Lia.
Wahrscheinlich sei der Täter in beiden Fällen derselbe, doch das bedeute nicht, dass er nach der Logik eines Serienmörders handle, also einem inneren Zwang gehorche.
»Das ist ein Mensch, der von Berufs wegen tötet. Und er hat es vermutlich schon oft getan. Dass er die Opfer an einen auffälligen Ort bringt, ist eine Botschaft. Die Autos und die Fundstellen sollen eine Nachricht übermitteln.«
Sie überlegten noch einmal gemeinsam, ob Lia Chief Inspector Gerrish von den Prostituierten in der Vassall Street und von Daiga V ī tola berichten sollte. Dagegen sprach, dass sie keine konkreten Beweise hatten.
»Außerdem hat Gerrish schon genug zu tun«, meinte Lia.
Die Medien hoben hervor, dass die Polizei im Fall der Frau ohne Gesicht immer noch keine Erfolge vorzuweisen hatte. In der Titelstory des Daily Star hieß es, die Situation sei peinlich: Das Opfer war mitten in der Londoner City, unmittelbar neben den großen Justizgebäuden gefunden worden, aber die Polizei hatte nicht die kleinste Spur von dem Täter.
Der Hyundai-Mord unterschied sich in einem interessanten Detail von dem Fall Holborn Street. Niemand wusste, wer im Frühjahr als Erster das Opfer im weißen Volvo entdeckt hatte. Es hatte nicht festgestellt werden können, obwohl die Polizei mehr als hundertsechzig Schaulustige befragt hatte.
Das Opfer im Hyundai dagegen war von einem 71-jährigen Mechaniker gefunden worden, der in der Abendschicht die technischen Anlagen eines benachbarten Einkaufszentrums kontrolliert und den regelwidrig auf dem Gehsteig geparkten blauen Wagen bemerkt hatte.
Er war hingegangen und hatte sich den Wagen angesehen. Da sich der Besitzer nicht blicken ließ, hatte er die Türen überprüft und festgestellt, dass sie nicht verriegelt waren.
»Der Wagen war leer. Das war schon mal seltsam. Normalerweise haben die Leute doch irgendwelchen Kram im Auto liegen. Ich habe ins Handschuhfach geguckt, wo die meisten den KFZ -Schein und so was aufbewahren – nichts«, berichtete der Mechaniker in einem Interview der Fernsehnachrichten.
Dann habe er den Kofferraum geöffnet, aus dem ihm sofort ein widerwärtiger Gestank entgegenschlug.
»Ich musste die Hand vor Mund und Nase halten. Es war eine große, in Plastik gewickelte … Gestalt. Furchtbar viel Blut. Ich habe sofort an den Fall der Frau ohne Gesicht gedacht.«
Der Mann hatte den Deckel zugeschlagen und die Polizei alarmiert. Außer ihm und den Ermittlern hatte niemand die Tote sehen müssen.
Die Leichen in die City zu bringen sei eine waghalsige Operation, meinte Mari, als sie mit Lia telefonierte. Der Täter hatte den Wagen
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