Die Frau ohne Gesicht
Er trug eine weite Khakihose und eine Weste mit vielen kleinen Taschen und sah aus wie ein Entdeckungsreisender.
»Herzlich willkommen!«, rief er schon von weitem, und Lia wusste, dass seine warme Stimme Sarah Hawkins guttat. Die Videoaufzeichnung war eine starke psychische Belastung.
Berg nahm Sarahs Koffer und führte die Gruppe in die fast leere Halle. In einer Ecke befand sich ein kleiner Verschlag, eine Art Mini-Büro mit Kaffeemaschine, am anderen Ende war ein kleines Filmstudio aufgebaut.
Dort wartete Maggie, deren Wandlungsfähigkeit Lia wieder einmal beeindruckte. Mit Jeansanzug und riesigem Klimperschmuck vermittelte sie Sarah das Gefühl, in der Obhut einer echten Make-up-Künstlerin zu sein. Als Maggie sprach, glaubte Lia in ihrer Stimme die zahllosen Maskenbildnerinnen und Friseusen zu hören, die Maggie vor ihren Bühnenauftritten zurechtgemacht hatten.
»Verlass dich auf mich, Schätzchen. Du siehst großartig aus, aber wir waschen erst mal alle Schminke ab. Für Filmaufnahmen bei starkem Scheinwerferlicht braucht man spezielle Tricks und Wundermittel.«
Nach gut einer Stunde war es so weit: Sarah hätte auf jeder offiziellen Veranstaltung bestehen können.
Die neue Frisur schmeichelte ihr, und das Kostüm wurde durch ein dünnes Halstuch vorteilhaft ergänzt. Sie wirkte elegant. Das starke Make-up war geschickt aufgetragen, und Sarah konnte den Blick kaum vom Spiegel abwenden. Sie sah viel jünger aus als vorher.
Nun gingen sie noch einmal den Ablauf durch. Lia würde die vereinbarten Fragen stellen, die Sarah zur Vorbereitung bereits vor einer Woche bekommen hatte. Lias Stimme würde nachträglich entfernt werden. Die Aufnahmen konnten so oft wiederholt werden wie nötig.
Sarah setzte sich auf einen Stuhl, hinter dem eine weiße Leinwand aufgespannt war. Rico und Berg rückten die Scheinwerfer zurecht und prüften die Licht- und Toneinstellungen. Rico war für den Ton zuständig, Berg für die drei gleichzeitig laufenden Kameras.
Sarah saß wartend da. Lia schwieg, damit sie sich in Ruhe konzentrieren konnte. Als Rico das Startzeichen gab, lächelte sie Sarah ermutigend an.
»Fangen wir damit an, wer du bist und warum dieses Video gedreht wird.«
»Mein Name ist Sarah Hawkins. Ich bin die ehemalige Frau des Parteiführers Arthur Fried. Wir waren sieben Jahre verheiratet. In den letzten vier Jahren unserer Ehe hat Arthur Fried mich misshandelt. Er hat mich regelmäßig, systematisch und brutal verprügelt. Ich will öffentlich darüber sprechen, weil die ständigen Misshandlungen mein Leben beinahe zerstört hätten und weil ich weiß, dass viele in einer ähnlichen Hölle leben. Niemand braucht sich so etwas gefallen zu lassen. Ich bin über das, was Arthur mir angetan hat, nie hinweggekommen. Arthur, meine Aussage wird dir sicher Probleme bescheren, aber die sind ein Klacks gegen die Probleme, die ich deinetwegen habe.«
Lia hörte fast atemlos zu. Es war, als hätte Sarah ihren Auftritt jahrelang geprobt, dennoch klangen ihre Worte nicht wie auswendig gelernt.
Sie war ernst, ruhig und aufrichtig. Nur ihre Augen verrieten, wie sehr die Erinnerung an ihr Leid sie aufwühlte.
»Wie fing es an?«
»Ich erinnere mich an das erste Mal. Natürlich. So etwas vergisst man nicht. Es war an einem Freitagabend bei uns zu Hause in Shoreditch. Er hatte getrunken und wollte Sex. Er begrapschte mich, tat mir weh. Unsere Beziehung hatte in Liebe begonnen, aber bei Arthur war allmählich eine aggressive Seite zum Vorschein gekommen, die mir nicht gefiel. Ich sagte ihm, ich hätte keine Lust. Daraufhin schlug er mich mit der Faust zu Boden, in unserer Küche. Dann nahm er seinen Gürtel, band meinen Arm an den Griff des Kühlschranks, sodass ich nicht weglaufen konnte, und fing an, mich zu schlagen.«
Wie scharfe Messer zerschnitten Sarahs Worte die Stille der Industriehalle. Lia, Rico, Berg und Maggie hörten ihrem grauenvollen Bericht erschüttert zu.
Sarah erzählte, wie Arthur Fried sie von da an regelmäßig misshandelt hatte, mit leerem Blick zeigte sie auf die Stellen ihres Körpers, auf die er seine Schläge gerichtet hatte. Sie berichtete von der Reise in die Toskana, von ihren Aufenthalten im Frauenhaus und beschrieb, wie Fried seine Frustration über die Probleme und Machtkämpfe in der Fair Rule an ihr ausgelassen hatte.
Lias letzte Frage lautete: »Gibt es etwas, das du Arthur Fried sagen möchtest?«
»Ja«, erwiderte sie laut und mit fester Stimme, »das gibt es.« Jetzt richtete
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