Die Frau ohne Gesicht
Sollte es bei der Verlegung seiner Firmen nach London Unregelmäßigkeiten gegeben haben, so würden diese in vollem Umfang geklärt werden. Für viele Morgenzeitungen kam die Mitteilung zu spät – in ihrer Printausgabe konnten sie diese nur erwähnen, aber keine Kommentare dazu einholen. Und Fried gab keine Interviews.
Am nächsten Morgen konnte Lia nachlesen, wie in allen Zeitungen Politikexperten prophezeiten, dass die Umfragewerte der Fair Rule beträchtlich sinken würden.
»Eine normale Pressekonferenz verwandelte sich vor den Augen der Reporter in Arthur Frieds Kamikazeflug. Was bleibt von einer Partei, die behauptet, offen über Dinge zu reden, die andere vertuschen, wenn ihr Anführer eines erstaunlich dreisten Betrugs beschuldigt wird? Wenn die Vorwürfe stichhaltig sind, handelt es sich um einen Triumph des investigativen Journalismus, der sicherlich Auswirkungen auf die in zwei Monaten anstehende Parlamentswahl hat«, schrieb The Guardian .
In den nächsten Tagen weigerte sich Fried weiterhin, Interviews zu geben, doch die Journalisten beschafften Kommentare von anderen führenden Mitgliedern der Fair Rule sowie von den Vertretern der anderen Parteien. Die eigenen Leute standen hinter Fried, während seine Konkurrenten Frieds »messianisches« Auftreten und seine populistische Linie hart kritisierten.
»Kaltblütige Schadensbegrenzung«, meinte Mari.
Fried wisse, dass er seine eigenen Leute beruhigen und um sich scharen müsse. Wahrscheinlich werde er versuchen, die Klärung der Sache über den Wahltermin hinaus zu verzögern. Die Partei würde nicht unbedingt Wähler verlieren, solange offen blieb, ob Fried kriminell gehandelt habe oder nicht.
Lia hörte sich Maris Analyse an. Es klang, als wüsste Mari genau, was in Frieds Kopf vor sich ging.
Fried glaube vermutlich noch, der Reporter sei zufällig auf die Informationen gestoßen, fuhr Mari fort. Wenn sie die nächste Enthüllung publik machten, wisse Fried, dass ihn jemand attackierte, und würde den Kampf aufnehmen. Sie mussten ihm einen Schritt voraus sein.
Lia rief Sarah Hawkins in dem Hotel an, in dem sie seit der Videoaufnahme wohnte. Sarah hatte vom Studio ein neues Handy und eine neue Nummer bekommen, damit sie für keinen anderen erreichbar war.
»Hast du die Nachrichten über Arthur gesehen?«, fragte Lia.
»Ja. Einfach unglaublich. Ich wusste natürlich von seinen Firmen, aber von derartigen Dingen hatte ich keine Ahnung«, sagte Sarah.
Lia warnte sie, es werde möglicherweise in nächster Zeit weitere Skandalmeldungen geben.
»Die Medien nehmen Arthur und die Fair Rule jetzt viel genauer unter die Lupe«, erklärte sie.
»Gut. Wenn mein Video veröffentlicht wird, haben sie reichlich Stoff.«
Sarah hatte eine Kopie des bearbeiteten Videos bekommen und es sich immer wieder angesehen.
»Es ist seltsam, sich selbst auf dem Bildschirm zu betrachten. Aber ich fühle mich besser als seit vielen Jahren. Wenn es nur endlich vorbei wäre und ich mein Leben weiterführen könnte.«
»Bald ist es so weit.«
35.
Im Einkaufszentrum von Oakley war es am Montagnachmittag um zwei Uhr friedlich. Der Hochbetrieb zu Mittag war vorüber, nur hier und da waren noch Kunden zu sehen.
Lia saß an einem Fenstertisch im Café, trank ihren Kaffee und wartete. Ab und zu blickte sie kurz zu Paddy Moore hinüber, der an einem etwas entfernteren Tisch saß. Obwohl sie sich ausgesöhnt hatten, gingen sie zurückhaltender miteinander um als zuvor. Paddy wollte sich erst mit eigenen Augen von Lias Zuverlässigkeit überzeugen.
Lia war allein ins Café gekommen, nachdem Paddy den Raum inspiziert und nachgesehen hatte, wer sich in der näheren Umgebung aufhielt. Sie ließen sich nicht anmerken, dass sie sich kannten.
Zuvor hatte sie zwei Tage Urlaub genommen. Martyn Taylor hatte seine Zustimmung gegeben, nachdem Lia ihm erläutert hatte, wie sie die Arbeit am Layout einteilen wollte, sodass der spontane Kurzurlaub den Zeitplan nicht durcheinanderbrachte. Sie hatte mit Einwänden gerechnet, doch Taylor schien ihr entschiedenes Auftreten zu schätzen.
Um 14.25 Uhr betraten vier Frauen das Café. Eine von ihnen war Elza, und auch die anderen hatten baltische Gesichtszüge. Der junge Bursche, der hinter den Frauen hergeschlurft war, blieb draußen stehen. Er war um die sechzehn, trug Jeans und Lederjacke und hatte riesige Kopfhörer aufgesetzt. Ein Kartenjunge.
Die Frauen holten an der Theke Gebäck und Kaffee. Lia hörte sie plaudern. Die Sprache kannte
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