Die Frau ohne Gesicht
Dann flüsterte Elza: »Ich schaue kurz am Tisch vorbei, damit die Mädchen sich nicht wundern. Warte fünf Minuten.«
Im Weggehen kramte sie in ihrer Handtasche und hielt Lia etwas hin.
»Das habe ich dir mitgebracht.«
Lia betrachtete das kleine Stück Papier. Es war ein Foto, ein kleines Bild, wie man sie am Automaten machen konnte. Es zeigte eine dunkelhaarige Frau. Lia wusste, wer sie war. Daiga V ī tola.
Die Frau lächelte, oder vielmehr: Sie lachte. Sie wirkte stark, wie ein Mensch, der sich über Kleinigkeiten freut. Zum Beispiel darüber, wie verrückt es war, in der Kabine eines Fotoautomaten zu posieren.
Sie sieht aus wie eine Mutter, dachte Lia. Seltsam, dass so eine Frau in Riga auf den Strich gegangen und dann als Prostituierte nach London gekommen war.
Oder vielleicht tut eine Frau wie sie so etwas gerade deshalb. Um den Lebensunterhalt für ihre Familie zu verdienen. Sie hat es nicht nur für sich selbst getan.
Lia betrachtete das Foto und dachte über die Menschen und ihre Entscheidungen nach.
Wer nie im Leben schwere Entscheidungen treffen musste, versteht nicht, was das bedeuten kann.
Die alte Dame, die aus der Kabine kam, musterte sie misstrauisch, doch Lia kümmerte sich nicht darum. Die Frau ging, und kurz darauf kehrte Elza zurück.
»Ich glaube, die Mädchen ahnen, dass etwas im Gang ist«, sagte sie.
Aber ihre Freundinnen seien zu verängstigt, um zu fragen, weshalb sie schon wieder zur Toilette lief.
Sie setzte ihren Bericht fort. Vier Tage vor Daiga V ī tolas Verschwinden war Vanags in Wut geraten.
»Da gibt es einen Zusammenhang. Ich dachte, Kazis hätte Daiga gezwungen, auszuziehen. Aber jetzt weiß ich, dass er sie umgebracht hat. Und das auf so furchtbare Art.«
Wieder traten Elza Tränen in den Augen. Auch Lia fiel es schwer, nicht zu weinen. Sie lehnte sich an den Waschtisch und hörte weiter schweigend zu.
Die vier Frauen in der Vassall Street kamen aus Lettland. In London gab es vier Bordelle mit lettischen Frauen, die alle auf die gleiche Weise entstanden waren.
Die Bordelle wurden von sechs Männern betrieben, die meisten ebenfalls aus Lettland. Sie hatten eine Reihe von Helfern, Nachkommen von in London ansässigen Osteuropäern.
»Kleinere Bosse gibt es drei. Jeder bekommt die Einnahmen von einem Haus, aber Vanags kassiert am meisten.«
Vanags organisierte den Transport der lettischen Prostituierten nach Großbritannien. Er hatte gute Kontakte zu Speditionsfachkräften in Osteuropa, und das Eastern Buffet lieferte eine ehrbare Kulisse für sein illegales Geschäft. Sein Geld verdiente er mit Waffen und Prostituierten.
»Sie führen keine Drogen ein, weil die Polizei vor allem danach sucht.«
Bevor Lettland 2004 der EU beitrat, war es schwierig gewesen, die Frauen einzuschmuggeln. Sie waren zuerst von Lettland nach Polen gebracht worden. Das war eine der leichtesten Etappen: Man brauchte nur die Grenzbeamten zu bestechen. Auch Elza hatte die Grenze bequem auf dem Rücksitz eines Autos überquert, mitten am Tag und für alle sichtbar.
Danach mussten die Frauen versteckt werden. Ein Wagen brachte sie nach Schweden, und von dort fuhren sie mit der Fähre nach Edinburgh in Schottland. Für einige hatte man einen gefälschten Pass besorgt, sodass die Seereise einigermaßen angenehm verlief.
Aber falsche Pässe waren teuer, daher mussten die meisten als blinde Passagiere reisen. Elza hatte während der gesamten zweitägigen Überfahrt unter einem doppelten Boden im Kofferraum eines Wagens gelegen.
»Es ist entsetzlich. Am liebsten würde man laut schreien, aber das geht nicht. Entdeckt zu werden wäre noch schlimmer.«
Sie hatte nur leise weinen können, die Faust vor den Mund gepresst, damit man sie nicht hörte. Sie lag in einem engen, völlig dunklen Raum. Luft bekam sie durch einen kleinen Schlauch unter dem Wagen. Zum Urinieren hatte ihr der Fahrer ein paar Flaschen gegeben. Sie hatte wenig Essen und sehr wenig Wasser bekommen.
Von der Reise im Kofferraum erfuhren die Frauen erst unmittelbar vor der Abfahrt. Und man ließ ihnen keine Wahl. Der Fahrer befahl der Frau, in den Kofferraum zu kriechen, und erklärte, dort müsse sie bleiben, wenn sie nach London wolle. Wenn sie sich weigere, werde er sie auf der Stelle erschießen.
»Das haben Daiga, ich und viele andere durchgemacht. Im Kofferraum eines Volvos gehockt und in die Pistole des Fahrers geguckt. Wir wussten, dass wir im Kofferraum bleiben, tot oder lebendig. Wir nennen das den
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