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Die Frau ohne Gesicht

Die Frau ohne Gesicht

Titel: Die Frau ohne Gesicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pekka Hiltunen
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sie nicht, vermutete aber, dass es Lettisch war.
    Die Frauen besetzten den Tisch neben ihr. Elza grüßte Lia nicht, warf ihr aber nach ein paar Minuten einen langen Blick zu.
    Dann stand sie auf und sagte auf Englisch zu ihren Freundinnen: »Ladys, bitte entschuldigt mich, ich gehe mir die Nase pudern.«
    Die anderen lachten über die Phrase, und in dem Moment begriff Lia, dass Elza ihnen nichts von ihrer Begegnung oder von Daiga V ī tolas Tod erzählt hatte. Trotz der Situation freute sie sich über den Humor und die Wärme, die zwischen den Frauen herrschten.
    Elza ging zur Toilette. Lia wartete ein paar Minuten, dann nahm sie Mantel und Handtasche und folgte ihr. Elza erwartete sie mit ernster Miene.
    »Sag mir noch mal deinen ganzen Namen«, bat sie.
    »Lia Pajala.«
    »Elza Berklava«, stellte sie sich vor und gab Lia die Hand.
    Sie muss verängstigt sein. Sie lebt ständig in der Nähe von Typen wie Kazis Vanags und dem Glatzkopf.
    »Wenn ich dir von Daiga V ī tola erzähle, was passiert dann?«
    Lia gab zu, dass sie es nicht wusste.
    »Aber ihr Mörder muss zur Verantwortung gezogen werden«, fügte sie hinzu.
    Elza nickte.
    »Ich helfe, so gut ich kann, aber du musst mir auch helfen. Wenn sie es rauskriegen, ergeht es mir genauso wie Daiga und Anita.«
    Lia stutzte.
    »Anita?«
    »Anita Klusa. Die Frau, die letzte Woche in dem Hyundai gefunden wurde.«
    Lia bemühte sich, ihre Aufregung zu verbergen.
    Elza sagte, dass sie, nachdem sie Lias Zeitungsausschnitt gelesen hatte, die ganze Nacht geweint habe.
    »Ich musste ihn zerreißen und im Klo herunterspülen, weil sie unsere Sachen durchwühlen. Sie suchen Drogen – sie wissen, dass wir welche haben, aber sie wollen nicht, dass wir zu viel nehmen. Die Freier beschweren sich, wenn die Frau high ist.«
    »Erzähl mir von Daiga«, bat Lia.
    Elza lächelte. Doch als sie sprach, traten ihr Tränen in die Augen.
    »Daiga war eine unglaubliche Frau.«
    Sie stammte aus einer Vorstadt von Riga und war schon vor sieben Jahren nach Großbritannien gekommen. Als sie sich in London wiedersahen, hatte Daiga Elza erklärt, wie die Arbeit hier ablief. Sie hatte auch viele andere Mädchen angelernt.
    »In diesen Häusern gibt es oft eine erfahrenere Frau, die die Mädchen einarbeitet.«
    Als Daiga noch in der Vassall Street war, hatten in der Wohnung fünf Prostituierte gearbeitet. Jetzt waren sie zu viert.
    Daiga war die Einzige, die es gewagt hatte, dem Bordellbesitzer Kazis Vanags zu widersprechen. Sie nahm weniger Freier an als die anderen, weil sie – wie sie sagte – »in Schuss bleiben« wollte, und ließ sich auch durch Drohungen nicht davon abbringen. Sie war die heimliche Anführerin der Frauen in der Vassall Street gewesen und hatte dafür gesorgt, dass ihr Leben einigermaßen erträglich war.
    »Daiga hat oft gesagt, das Leben ist nichts als Scheiße, aber immerhin führen wir unser Scheißleben in London.«
    Die beiden hatten schon in Riga als Prostituierte gearbeitet.
    »Daiga und ich sind dort an zwei oder drei Abenden in der Woche durch die Parks spaziert. Zu unserem Revier gehörten die besten Parks der Stadt, die lebhaftesten Gegenden. Wir konnten uns die Freier aussuchen.«
    Es war ein harter Schlag für sie gewesen, dass sie in London jahraus, jahrein wie Gefangene leben und jeden Freier akzeptieren mussten.
    Daiga hatte daran geglaubt, dass ihr Leben in London eines Tages eine Wende zum Besseren nehmen würde. Sie hatte eine Seelenstärke besessen, die man selten fand. Die meisten Prostituierten betäubten sich, um ihre Situation psychisch zu verkraften. Daiga V ī tola habe weder getrunken noch gefixt. Ihr sei es zu verdanken, dass die Frauen regelmäßig zum Arzt gehen durften, denn obwohl sie Kondome benutzten, blieben sie nicht von Krankheiten und Infektionen verschont.
    »Wer hat Daiga getötet?«, fragte Lia.
    Elza presste verbittert die Lippen zusammen.
    »Es muss Vanags gewesen sein«, sagte sie dann bestimmt.
    Kazis Vanags hatte es gehasst, dass Daiga ihn nicht fürchtete. Wenn er sie beschimpfte, zahlte sie mit gleicher Münze zurück. Einmal hatte sie Vanags ins Gesicht gelacht.
    »Da habe ich Böses geahnt. Der Mann ist so hart, dass er nicht zögern würde, einen Säugling umzubringen.«
    Elza hatte keine Beweise gegen Vanags, wusste aber, dass er kurz vor Daigas Verschwinden eine wahnsinnige Wut auf sie gehabt hatte.
    Die Tür ging auf, und eine alte Dame kam herein.
    Elza und Lia schwiegen, bis die Frau in eine Kabine gegangen war.

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