Die Frau ohne Gesicht
wird.«
»Natürlich wird es gebraucht. Kidderpore Avenue?«
»Ja. Bei der Ecke zur Platt’s Lane. Die Haustür ist abgeschlossen, ruf mich an, wenn du da bist.«
Schon als Lia die Haustür öffnete, sah Lia, dass Mari das Wesen der kleinen Feier richtig eingeschätzt hatte. Sie trug eines ihrer besten Kleider. Lia wusste, dass sie das dunkelbraune Seidenkleid vor Jahren in Vietnam gekauft hatte und sehr liebte. Sie selbst hatte ihren besten Rock und eine teure Strumpfhose angezogen. Beide waren festlich geschminkt.
Mari hatte eine Menge mitgebracht, unter anderem zwei Taschen voller Wein, die so schwer waren, dass Lia lachen musste.
»Adventsbesäufnis unter Kollegen. Man trinkt teuren Wein und spart am Festsaal«, sagte sie.
Mari kicherte.
Sie standen an der Tür zu Lias Wohnung und blickten hinein.
Die Dekoration war bescheiden. Lia hatte hier und da weiße Wattestreifen aufgehängt, die Schnee symbolisieren sollten. An einigen ausgesuchten Stellen lagen Christbaumkugeln. Die Hauptlichtquelle in ihrem kleinen Zimmer, eine schlichte, quadratische Deckenlampe, war mit Transparentpapier verhängt, das sternförmige Löcher hatte. Dadurch entstand ein weiches Licht, das die Mängel des Raums abschwächte.
Lia betrachtete ihre Wohnung und wusste, wie sie wirkte. Eine Studentenbude mit selbstgebastelter, billiger Weihnachtsdekoration.
Aber Maris Begeisterung füllte den ganzen Raum.
»Fantastisch«, sagte sie. »Ist im Kühlschrank Platz für den Weißwein?«
Da der Kühlschrank voll war, trugen sie den Wein in den Fahrradschuppen hinter dem Haus. Der Champagner, den Mari mitgebracht hatte, war bereits vorgekühlt.
An diesem Abend wurde vieles bekräftigt. Es war eine Rückkehr zum Sommer, zu den Abenden und Nächten, in denen sie gemeinsam ausgegangen waren.
Sie aßen die Speisen, die Lia besorgt hatte. Zur Feier des Tages hatte sie etwas Besseres servieren wollen als die Gerichte, die sie in ihrer Miniküche zubereiten konnte: Pestosalat, Bouillabaisse und Limettensorbet.
Vom Champagner gingen sie zu anderen Getränken über. Unter den Weinen, die Mari mitgebracht hatte, fand sich für jedes Gericht die passende Sorte. Nach dem Essen reichten sie sich ihre Geschenke.
»Darf man sie gleich auspacken?«, fragte Mari.
»Das muss man sogar«, antwortete Lia. »Sonst ist es nicht wie Weihnachten.«
Mari bekam von Lia zwei DVD -Boxen: Die Zeichentrickfilme des Aardman-Studios und eine Auswahl der Filme von Lars von Trier.
»Toll! Danke.«
Lia wusste, dass die Filme zu Mari passten. Extreme Wärme und Härte.
Auch sie bekam zwei Geschenke. Das eine war ein Set Plastikeiswürfel, in denen Lichter flackerten, woraufhin Lia sofort neue Drinks mixte. Das zweite Geschenk war ein Gutschein für einen Flug im Wert von sechshundert Pfund.
»Das reicht für eine Reise in die Provence. Oder wohin du willst«, erklärte Mari.
Lia war gerührt, aber auch ein wenig verlegen über das teure Geschenk.
»Da ist der Bonus für deine Arbeit im Studio mit drin«, sagte Mari.
Das genügte als Begründung. Sie waren sich einig, dass sie jeweils wundervolle Geschenke bekommen hatten und dass nun Weihnachten war.
Lia wollte Mari ihre Aussicht auf den Park zeigen. Sie knipsten das Licht aus und betrachteten die Kirche und die Statuen, die sich in der Dunkelheit abzeichneten.
»Würdest du gern hingehen?«, fragte Lia.
Mari nickte. Sie zogen sich warm an und gingen in den Park. Lia unterhielt Mari mit den Geschichten über die Statuen, die sie im Lauf der Jahre gelesen hatte.
Die Geschichte des Ehepaars Elgar war von romantischer Aufopferung geprägt. Caroline Alice hatte ihre schriftstellerische Arbeit aufgegeben, um Edward, einen übellaunigen Komponisten, zu heiraten. Ihre Verwandten und Freunde blickten auf den Mann herab, weil er von niedrigerem Stand war, doch Alice ertrug ihre Sticheleien ebenso gelassen wie die Wutausbrüche ihres Mannes.
»Manchmal klagte sie, es sei eine Ganztagsbeschäftigung, sich um ein Genie zu kümmern. Aber im Gegenzug widmete Edward ihr alle seine Kompositionen.«
Mari seufzte.
Sie betrachteten St. Lukas und Florence Nightingale. Lia war glücklich: Mari war von allem so beeindruckt, wie sie es sich erhofft hatte.
Als sie zurückgingen, fiel Lia auf, dass Mari der erste Gast war, den sie in ihrer kleinen Wohnung empfing. Herr Vong zählte nicht, außerdem hatte er sie nur besucht, um ihr bei Reparaturen zu helfen.
Später saßen sie auf Lias Bett, tranken und redeten. Über die
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