Die Frau ohne Gesicht
lassen, die Vernehmung wäre beendet, damit ich meine Worte nicht mehr abwäge.
Da Lia freundlicherweise seine Fragen beantwortet habe, sagte Gerrish, wolle er ihr sagen, wie sich die Morde seiner Meinung nach abgespielt hatten.
Die Polizei konnte nicht beweisen, wer die beiden Lettinnen ermordet hatte. In den Wagen, in denen man sie gefunden hatte, wies nichts auf Vanags oder Jansons hin, man hatte auch keine polizeilich registrierten Fingerabdrücke sichergestellt. Aber in der Lagerhalle, in der Jansons’ Leiche gefunden worden war, hatte das Maschinengewehr gelegen, mit dem Anita Klusa ermordet worden war. Zudem gab es Hinweise darauf, dass die Tat in einer Betongrube in der Halle geschehen war.
Lia schauderte.
In der Wohnung in der Vassall Street hatte man zahlreiche Beweise dafür gefunden, dass dort ein Bordell betrieben worden war, was auch die Vernehmungen der Freier bestätigt hatten. Es war leicht gewesen, sie ausfindig zu machen: Die Polizei hatte einfach in der Wohnung gewartet und die Tür geöffnet, wenn jemand klingelte. Daiga V ī tola hatte offenbar in dieser Wohnung gearbeitet. In zwei Zimmern waren ihre Haare gefunden worden, und der kleine Schlüssel, den man unter ihren Überresten entdeckt hatte, passte auf einen leeren Koffer in der Wohnung.
Die Frauen, die in der Wohnung gearbeitet hatten, und ihre Zuhälter hatte man bisher nicht ausfindig gemacht. Möglicherweise würden sich jedoch bei der Befragung der Nachbarn neue Hinweise ergeben.
»Wir haben außerdem drei weitere Bordelle gefunden, an denen Vanags beteiligt war.«
Lia hob die Augenbrauen.
Die Polizei habe die Bordelle mit Hilfe eines Navigators in Vanags’ Wagen lokalisiert, führte Gerrish aus. An den dort gespeicherten Adressen hatten sich auch sonst interessante Dinge gefunden, zum Beispiel dutzendweise illegale Waffen. In den Bordellen hatte man insgesamt vierzehn Frauen aufgegriffen, zwölf Lettinnen und zwei Russinnen. Die Männer, die sie bewachten, hatten ein langes Strafregister.
»Was wird aus den Frauen?«, fragte Lia.
»Wahrscheinlich werden sie in ihr Heimatland zurückgeschickt. Zunächst einmal sind sie zum Verhör geholt worden, sie machen gerade ihre Aussagen. Aber wenn alles überprüft ist, werden vermutlich die meisten, wenn nicht alle ausgewiesen.«
Man hatte eine Verbindung zwischen Olafs Jansons und dem Fundort der Leiche von Anita Klusa herstellen können. Die Überwachungskameras in der Ludgate Hill hatten die Ankunft des blauen Hyundai aufgezeichnet. Der Fahrer war auf den Aufnahmen nicht zu sehen, doch etwas später tauchte Olafs Jansons unter den Passanten auf, die über die Ludgate Hill gingen.
Jansons und Vanags waren mit derselben Waffe erschossen worden. Die Tatwaffe hatte man nicht gefunden.
»Sie wurden aus nächster Nähe erschossen. Wie bei einer Hinrichtung. Das deutet möglicherweise auf Konflikte innerhalb der Bande oder auf den Angriff einer konkurrierenden Gang hin.«
Es gebe allerdings noch eine zweite Theorie über den Schützen, fuhr Gerrish fort und sah Lia durchdringend an.
In dem Haus in der Sangley Street hatte man außer dem Blut des Opfers auch das einer zweiten Person gefunden.
Die Wunde an Henrietes Arm. Kann man sie dadurch ausfindig machen?
»Die Untersuchung hat ergeben, dass dieses Blut von einer Person stammt, die eng mit der im Volvo aufgefundenen Daiga V ī tola verwandt ist.«
Gerrish beobachtete Lias Reaktion.
»Können Sie sich diese Tatsache erklären?«
Lia schüttelte schweigend den Kopf.
»Ich habe eine Theorie«, sagte Gerrish. »Es würde mich interessieren, was Sie davon halten.«
Der Ermittler glaubte, dass die Männer nicht von der Hand eines Komplizen oder Konkurrenten gestorben waren. Er meinte, Daiga V ī tola habe wahrscheinlich eine Schwester, die mit ihr zusammen als Prostituierte gearbeitet und die Männer aus Rache getötet hatte.
Lia dachte über Gerrishs Theorie nach.
»Ein interessanter Gedanke«, sagte sie. »Ich weiß nicht, ob Daiga V ī tola eine Schwester hat. Die Prostituierte, mit der ich gesprochen habe, hat davon nichts erwähnt.«
Gerrish sah Lia in die Augen. Er sprach den Gedanken nicht aus, den sein Blick übermittelte: Na schön. Lassen wir es dabei bewenden.
Er sagte, er halte den Ablauf im Wesentlichen für klar.
»Die beiden Männer haben vermutlich die Prostituierten ermordet, und jemand hat sie dafür getötet. Vielleicht waren auch mehrere Rächer beteiligt. Wir müssen nach zusätzlichen Beweisen
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