Die Frau ohne Gesicht
ersten Blick auf das Buch: Zuerst war sie verblüfft, dann entzückt. Sie lasen sich die besten Passagen laut vor. Das Kapitel Schau an, London enthielt einige Überraschungen: So hatte Mozart seine erste Sinfonie als Achtjähriger in London komponiert, nämlich in der Ebury Street in Belgravia. Bis 1916 hatte das Kaufhaus Harrods Kokain im Angebot, das als Medizin galt. »Die bei der Jugend so beliebten Rockbands« The Beatles und The Rolling Stones waren 1963 gemeinsam beim Benefizkonzert des Rentenfonds der Drucker in der Royal Albert Hall aufgetreten.
Während sie mit Mari lachte, sah Lia aus den Augenwinkeln ihre Spiegelbilder in der dunklen Fensterscheibe. Neben ihnen schwebten kleine Lichter, die Flammen der Kerzen, die Lia angezündet hatte. Sie stellte sich vor, auch Elza wäre dabei.
Plötzlich sah sie im Spiegelbild noch eine weitere Gestalt: Eine dunkelhaarige Frau, der Lia nie begegnet war. Sie hatte nur ein Foto von ihr gesehen, das jetzt in ihrer Brieftasche steckte. Daiga V ī tola. Die mutige, ungestüme Daiga saß bei ihnen, trinkend und lachend.
Da war sie, die Angst, unmittelbar neben ihnen. Doch sie ließ sich beherrschen. Nachdem Lia sich mit allem auseinandergesetzt hatte, was seit dem Frühjahr geschehen war, hatte sie gelernt, mit ihren Ängsten umzugehen. Auch das Jahre zurückliegende Erlebnis in Finnland, die zum Albtraum gewordene Beziehung, erschien ihr nun anders als zuvor. Es war ein Lebensabschnitt unter anderen.
Lia lauschte dem Lachen nach, das von den Wänden des Zimmers zurückgeworfen wurde. Es war ein Geräusch, das sie in ihrer kleinen Wohnung noch nie gehört hatte.
Gegen zehn Uhr wurde sie aber noch auf ein anderes Geräusch aufmerksam. Sie bedeutete Mari, still zu sein.
»Herr Vong!«, flüsterte sie, und Mari verstummte erwartungsvoll lächelnd.
Sie hörten ein gleichmäßiges Rauschen. Wasser, das in die Badewanne lief. Die Wanne warf das Echo des Rauschens zurück, das Geräusch erfüllte jeden Winkel in Lias Zimmer, wie das Brausen eines kleinen Wasserfalls.
Das Rauschen verstummte. Herr Vong hatte das Wasser abgedreht. Man hörte ein leises Platschen, als die letzten Tropfen in die Wanne fielen. Sie hörten, wie Herr Vong in die Wanne stieg. Dann wurde es ganz still. Der alte Herr und sein abendliches Bad.
Mari wollte etwas sagen, doch Lia flüsterte: »Still!«
Einige Sekunden vergingen.
Ein Knattern. Noch eins.
Lia schlug die Hände vors Gesicht, um ihr Gelächter zu dämpfen, und als sie zwischen den Fingern hindurchspähte, sah sie, dass Mari den Atem anhielt, um nicht laut loszuprusten.
Herr Vong ließ seine Abendfurze fahren, die im Wasser klar, scharf und dröhnend erschallten wie das kunstvolle Solo eines Blechbläsers.
Jetzt konnten sie es nicht mehr zurückhalten, sie schüttelten sich vor Kichern.
Ein genussvoller Rausch hatte sie erfasst. Der Wein hüllte ihre Gedanken ein wie eine weiche Decke. Mari wollte nach Hause, solange sie sich noch auf den Beinen halten konnte. Lia bot ihr an, bei ihr zu übernachten, im gemeinsamen Bett.
Sie wiederholten das finnische Wort siskonpeti , Schwesternbett, bewunderten seine Schönheit. Siskonpeti . Bei diesem Wort musste man an Decken denken, die aus dem Wandschrank gekramt wurden, an die kleinen Wohnungen früherer Zeiten und an Freundschaftsbande – gerade erst entstandene ebenso wie im Lauf der Jahre erstarkte.
Doch Mari lehnte ab. Sie brauchte ihre vertraute Umgebung.
Sie bestellten ein Taxi und sammelten Maris Geschenke und sonstigen Sachen ein. Dann betrachteten sie das Durcheinander in Lias kleinem Zuhause. Essen und Geschirr, Flaschen und Gläser, Geschenkpapier und Kerzenstummel.
»Das schönste Weihnachtsfest, das ich je erlebt habe«, sagte Mari und umarmte Lia.
Lia begleitete Mari bis zur Haustür und wartete, bis sie im Taxi saß. Dann ging sie so gerade, wie sie konnte, in ihre Wohnung zurück, vergewisserte sich, dass keine Kerze mehr brannte, und fiel glücklich ins Bett.
Das Handy klingelte am Sonntagmorgen vor acht Uhr.
Als Lia auf dem Display Sarahs Namen sah, war ihr Kopf im Handumdrehen merklich klarer.
»Hallo?«
»Lia?«
Sarah Hawkins entschuldigte sich für den frühen Anruf. Was sie zu sagen habe, dulde keinen Aufschub.
»Lia, das Video darf nicht veröffentlicht werden. Es tut mir sehr leid. Ich habe mich anders entschieden.«
»Was? Warum?«
»Es ist etwas geschehen. Ich glaube nicht mehr, dass es richtig ist, das Video zu veröffentlichen. Es darf nicht publik
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