Die Frau ohne Gesicht
vertraut. Sie wusste, dass sie ein ähnliches Geräusch schon einmal gehört hatte – aber wann und wo? Es war lange her. Irgendwann in ihrer Kindheit. Im Sommerlager, wenn an einem heißen Tag die Ventilatoren rauschten? An einem großen See in Kajaani. Am Oulujärvi?
Ja, am Oulujärvi, nun war sie sich sicher, aber weiter reichte die Erinnerung nicht. Es lag zu weit zurück.
Empfindet Mari das auch so? Dieses Werk umfasst nicht nur die neuen Gedanken, die es weckt, sondern auch alle Erinnerungen, die es auslöst.
Lia saß lange auf der Bank. Sie schrak auf, als jemand zu ihr trat. Es war einer der Museumswärter, ein etwa fünfzigjähriger Mann. Auf seinem Namensschild stand John Norman.
Der Aufseher lächelte und sah Lia an, als wolle er sich vergewissern, dass er sie nicht gestört hatte. Lia erwiderte sein Lächeln.
»Dieses Werk macht die Menschen nachdenklich«, sagte Norman.
»Ja. Ich sitze sicher schon seit einer halben Stunde hier.«
»Seit einer vollen«, korrigierte Norman und lächelte erneut.
»Eine Freundin hat mich auf das Werk aufmerksam gemacht. Sie sitzt oft noch länger hier.«
»Ich kenne sie«, sagte der Aufseher. »Sie hat mich einmal gefragt, wie die Installation funktioniert. Ob wir die Bänder jeden Morgen hochwerfen, wenn wir die Ventilatoren einschalten, und wieso sie genau in der Mitte bleiben.«
»Und?«
»Ich habe zurückgefragt, ob sie das wirklich wissen will. Ob das Werk nicht schöner sei, wenn man nicht weiß, wie es funktioniert. Sie sagte, ich hätte recht. Manchmal brauche man nicht zu wissen, wie etwas funktioniert, es sei völlig genug, dass es das tut.«
»Das ist ein schöner Gedanke.«
Norman lächelte erneut, warf einen Blick in den Ausstellungssaal und wollte seine Runde fortsetzen.
»Wie oft haben Sie sie hier gesehen?«
»Unzählige Male. Miss Rautee ist sehr oft hier.«
Er sprach den Namen fast wie ein Finne aus. Vielleicht hatte Mari ihm die richtige Aussprache beigebracht.
Im Museum zähle man Miss Rautee beinahe zum Personal, berichtete Norman gut gelaunt.
»Als dieses Werk vor einem Jahr ins Lager gebracht werden sollte, kam sie an mehreren Tagen hintereinander, um es zu betrachten. Und dann trat sie dem Förderverein des Museums bei und machte eine Schenkung, die es ermöglichte, das Werk ständig auszustellen.«
Lia bemühte sich, ihre Verblüffung zu verbergen.
»Ja, sie ist eine Kunstfreundin«, sagte sie.
»Es ist Menschen wie ihr zu verdanken, dass Museen unterhalten werden können. Ich habe sie gefragt, warum sie sich nicht einfach ein Exemplar des Werks kauft. Es gibt ja mehrere davon. Der Künstler hätte ihr sicher eins verkauft, und sie wäre dabei sogar billiger weggekommen. Miss Rautee sagte aber, sie wolle, dass es hier zu sehen ist. Sie wolle es mit anderen teilen. Aber ihr Name sollte nicht genannt werden. Die meisten anderen Spender legen Wert darauf.«
»Das klingt ganz nach Mari«, meinte Lia.
»Ich war überrascht«, sagte Norman. »Sie mag es so sehr. Man sieht selten jemanden beim Betrachten eines Kunstwerks weinen.«
Lia sah Norman an und wusste nicht, was sie sagen sollte. Weinen?
»Manchmal weint sie, wenn sie hier sitzt. So ein … stilles Weinen. Ich weiß nicht – vielleicht gehört es sich nicht, dass ich darüber spreche. Aber Sie sind ja ihre Freundin.«
»Ja, das bin ich.«
Norman nickte und setzte seine Runde fort. Lia blieb noch eine Weile sitzen.
Als sie das Museum verließ, war es bereits nach zwölf Uhr. Ein Samstag, sechs Tage vor Weihnachten. Sie hatte noch keine Weihnachtsvorbereitungen getroffen, für niemanden Geschenke besorgt. Nicht einmal für ihre Familie in Finnland. Sie hatte es immer wieder vor sich hergeschoben und sich überlegt, dass sie im Internet irgendein Wohltätigkeitsgeschenk für sie kaufen würde, wenn ihr nichts anderes einfiel. Vielleicht eine Ziege für eine afrikanische Familie?
Sie rief Mari an.
»Was hast du heute Abend vor?«
»Hmm. Eigentlich nichts. Paddy und Rico sind hier im Studio, und wir dachten …«
»Nicht am Abend. Arbeiten kannst du tagsüber. Komm heute Abend zu mir. Nach Hampstead.«
»Zu dir nach Hause?«
»Ja. Lass uns Weihnachten feiern. Ich möchte ein Geschenk kaufen. Eine Kleinigkeit.«
Einige Sekunden lang herrschte Stille.
»Eine so gute Idee habe ich seit Monaten nicht gehört«, sagte Mari dann.
Nach sieben, schlug Lia vor. Sie werde etwas zu essen besorgen, Mari solle Wein mitbringen.
»Hochprozentiges habe ich da, falls das gebraucht
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