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Die Frau ohne Gesicht

Die Frau ohne Gesicht

Titel: Die Frau ohne Gesicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pekka Hiltunen
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scharenweise ein Sachbuch über Bäume lasen!
    All das hatte nicht unbedingt etwas mit der Lettin zu tun, deren Körper auf der Holborn Street in London im Kofferraum eines weißen Volvo S 40 gefunden worden war. Doch so hatte Lia das Gefühl, die Frau irgendwo einordnen, sie ein klein wenig verstehen zu können.
    Sie waren beide aus dem Nordosten Europas nach England gekommen, aus Gegenden, die man in der Welt kaum kannte. Wahrscheinlich hatte die Frau ein schweres Leben gehabt, da es so brutal endete.
    Aus irgendeinem Grund war die Lettin Lia wichtig geworden.
    Eines Morgens, als sie am Fenster ihren Joghurt aß, betrachtete Lia die hellgraue Statue des heiligen Lukas im Park und winkte ihr mit dem Löffel zu.
    Mir geht es so gut, dass ich die Kraft habe, meine Gedanken dieser fremden, ermordeten Frau zu widmen.
    In meinem Leben hat noch vieles Platz.
    An diesem Tag rief sie Mari an.

7.
    »Bilde dir bloß nicht ein, dass ich deine Geschichten glaube. Ich will nur sehen, wie lange du den Bluff durchhältst«, erklärte Lia.
    Sie trafen sich in einem Pub in der City. Gleich als Erstes stellte Lia die Frage, die sie die ganze Zeit über beschäftigt hatte: »Woher wusstest du, dass ich mit meinen Kollegen im White Swan Geburtstag feiern würde?«
    »Ich hatte davon gehört«, antwortete Mari.
    »Von wem?«
    »Von Martyn Taylor.«
    »Wie bitte?«
    Als Artdirector bei Level war Martyn Taylor Lias unmittelbarer Vorgesetzter.
    »Ich kenne ihn«, erklärte Mari. »Allerdings nur flüchtig. Wir sind uns ein paar Mal begegnet, bei Partys und Vernissagen. Als er hörte, dass ich aus Finnland stamme, hat er dich erwähnt. Seitdem haben wir immer, wenn wir uns begegnet sind, auch über dich gesprochen.«
    »Wusstest du an dem Abend im Pub all die Antworten, weil du mir nachspioniert hast?«
    »Eine verlockende Theorie … Martyn Taylor hätte mir demnach alles über dich erzählt«, sagte Mari lächelnd. »Aber wieso hätte er mir ausgerechnet das erzählen sollen, wonach deine Kollegen gefragt haben?«
    Stimmt. Das ist nicht gerade glaubhaft.
    Martyn hatte Mari allerdings gründlich über Finnland ausgefragt.
    »Er sagte, er wolle deinen Hintergrund verstehen. Er schätzt dich sehr«, erklärte sie.
    »Er wollte etwas über Finnland erfahren, um mich zu verstehen?«
    »Hat er jedenfalls gesagt. Offenbar hast du etwas Besonderes an dir.«
    »Wir finnischen Frauen.«
    »Genau. Wir finnischen Frauen.«
    Lia erzählte Mari von der Theorie, Menschen aus kleinen Ländern fiele es leichter, sich dem Leben in einem großen Land anzupassen als umgekehrt, weil sie nicht erwarteten, dass es überall auf der Welt so zuging wie bei ihnen zu Hause.
    »Klingt logisch«, sagte Mari. »Und dann gibt es Länder, in denen es jedem schwerfällt, sich anzupassen. Zum Beispiel Finnland.«
    Lia lachte.
    Sie sprachen es nicht aus, doch beiden war klar, dass sie sich im Stadium des Herantastens befanden. Aber dennoch – Lia brauchte noch Zeit, um sich darüber klar zu werden, ob sie Maris Behauptungen über ihre Fähigkeit ernst nehmen konnte.
    Stets überließ sie Mari die Wahl der Treffpunkte. Sie waren alle klug gewählt: Das für sein Organic Food bekannte Café Foxcroft & Ginger in Soho, das französische Bistro Le Mercury, die Bar im siebten Stock der Tate Modern.
    »Hallo, Medium«, sagte Lia oft zur Begrüßung. »Wessen Gedanken hast du heute gelesen?«
    Sie wunderte sich darüber, dass die vielen Menschen, die sich als Hellseher ausgaben, nicht dieselben Fähigkeiten besaßen wie Mari.
    »Ich weiß nicht, warum gerade ich es kann«, antwortete Mari ruhig. »Und es hat absolut nichts mit übernatürlichen Dingen zu tun.«
    Sie schlug Lia vor, ihre Fähigkeit mit der eines Künstlers zu vergleichen. Obwohl alle irgendwie zeichnen und ihr Geschick durch Übung auch verbessern konnten, waren einige besonders begabt und hatten daher die Chance, bildende Künstler zu werden.
    Doch dieser Vergleich erschien Lia zu simpel. Sie wollte wissen, ob Mari auf ihre Begabung hin getestet worden war.
    »Nein, nicht konkret. Natürlich habe ich eine Menge psychologische Tests gemacht. Schon wegen meiner Ausbildung. Aber ich habe nicht das Bedürfnis, mich untersuchen zu lassen.«
    »Aber wenn du eine so spezielle Begabung hast, warum sollte man sie nicht testen? Rein wissenschaftlich.«
    »Ich will nicht, dass man mich für seltsam hält, ich will kein Aufsehen erregen. Es steckt nichts Mystisches dahinter.«
    Ihr Gehirn stelle Wahrscheinlichkeitsrechnungen

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