Die Frau ohne Gesicht
an, so schnell, dass sie das Gefühl habe, zu wissen, was in den Köpfen der Menschen vorging. Ungewöhnlich seien nur die Menge und die Intensität der Analysen.
»Ich habe keine wissenschaftliche Erklärung dafür gefunden«, erklärte sie. »Obwohl ich mit einigen Kognitionsforschern darüber gesprochen habe. Sie haben die Begriffe ›soziale Intelligenz‹ und ›apperzeptive Wahrnehmung‹ vorgeschlagen, aber die treffen die Sache nicht ganz genau.«
Einige Fragen beantwortete Mari nicht. Sie verriet nicht, wo sie wohnte, nannte nur das Stadtviertel, Hoxton. Auch über ihre Arbeit verlor sie kein Wort.
»Es ist allerlei im Gang«, sagte sie nur.
»Du hast doch schon vor drei Jahren bei der Versicherung gekündigt. Hast du seitdem denn die ganze Zeit nur Allerlei gemacht? Wie kannst du davon leben?«, fragte Lia.
»Ich komme gut zurecht«, antwortete Mari, und Lia begriff, dass Nachfragen zwecklos waren.
Aber ihre Fähigkeit beschrieb Mari immer offen und nüchtern.
»Ich denke dabei an nichts Besonderes. Es gibt keinen geistigen Zustand, in den ich mich versetzen müsste. Es ist nicht anders, als wenn ich … ein Butterbrot esse. Natürlich sind Hintergrundinformationen hilfreich«, fügte sie hinzu.
Wenn sie die Gedanken eines Menschen genauer erkennen wolle, informiere sie sich zuvor über ihn.
Allmählich bröckelte Lias Widerstand. Sie bekam so viele echt wirkende Details zu hören, dass sie sich kaum mehr vorstellen konnte, Mari hätte das alles erfunden.
»Im letzten Frühjahr, als ich meine Familie besucht habe, wusste ich, dass mein Bruder irgendein Geheimnis hat. Ich habe es ihm sofort angesehen«, erzählte Mari.
Ihr Bruder hatte heimlich geheiratet und dabei gleich eine komplette Familie bekommen. Mit seinen sechsundzwanzig Jahren war er nun Vater von drei Kindern. Er war seit anderthalb Jahren mit einer deutlich älteren Chilenin zusammen und hatte mit ihr in Valparaiso eine rauschende Hochzeit gefeiert, bei der die ganze Verwandtschaft seiner Frau anwesend war. Seinen Angehörigen in Finnland hatte er nichts davon erzählt.
»Und ich musste schweigen! Ich durfte mir nichts anmerken lassen, denn er musste die Nachricht selbst überbringen.«
»Willst du damit sagen, deine Familie weiß nichts von deiner Fähigkeit?«
»Ja, sie sind ahnungslos. Sie halten mich zwar für leicht seltsam, glauben aber, es läge daran, dass ich im Ausland lebe. Ich habe nur ganz Wenigen davon erzählt.«
Warum mir? , überlegte Lia, sprach die Frage aber nicht aus.
Während Mari über ihre Familie kaum etwas erzählte, sprach Lia über ihre problemlos. Sie sei ein Einzelkind und melde sich nur sporadisch bei ihren Eltern. Dadurch seien sie ihr seit Jahren zwar in Gedanken, aber zugegebenermaßen nicht mehr im Alltag wichtig. Sie habe nur selten richtige Sehnsucht nach ihnen. Die beiden wohnten in einem Etagenhaus in Espoo und warteten auf den Tag ihrer Pensionierung.
Lia erzählte, dass sie manchmal den Eindruck habe, ihren Ansprüchen nicht zu genügen. Sie schienen etwas von ihr zu erwarten: die Rückkehr nach Finnland, eine Heirat, die Gründung einer Familie. Doch sie wisse es nicht, denn ausgesprochen würde das nie – überhaupt würde in ihrer Familie nicht über Wünsche und Hoffnungen geredet. Man halte sich bedeckt, damit nur ja nichts schiefging.
Lia erzählte Mari nichts von der Sache, die sie ihren Eltern nicht verzeihen konnte. Dass diese ihr, als sie wegen eines Mannes Probleme gehabt hatte, die sehr schlimm geworden waren, kein bisschen geholfen, ja weder ihre Mutter noch ihr Vater Verständnis gezeigt hatten. Lia war sich zwar sicher, Mari würde den Vorfall und all seine schmutzigen Einzelheiten verstehen. Aber sie wollte mit niemandem darüber sprechen.
Bald merkte Lia, dass sie fast täglich mit Mari telefonierte und sich auf das nächste Treffen freute. Sie fühlte sich so wohl wie seit langem nicht.
Zu ihrem Ärger schien Mari zu erraten, dass ihr Misstrauen schwand.
»Alles in Ordnung?«, fragte Mari und sah Lia durchdringend an.
Lia hielt ihrem Blick stand. »Ja, ja«, sagte sie nur.
Dann wandte sie all ihre Überredungskünste auf, um Mari in ein Rockkonzert zu locken.
»Wie alt bist du, zweiunddreißig?«, fragte sie.
»Einunddreißig.«
»Zu jung, um ohne Musik zu leben«, erklärte Lia und kaufte zwei Tickets für ein Konzert von Keane.
Keane war eine der ersten britischen Bands, für die sie sich begeistert hatte. Herr Vong kam oft in den Genuss ihrer Musik, wenn
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