Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Frau ohne Gesicht

Die Frau ohne Gesicht

Titel: Die Frau ohne Gesicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pekka Hiltunen
Vom Netzwerk:
Lia CD s spielte und aus vollem Hals mitsang.
    Das Konzert war großartig und Lia und Mari genossen den Abend so sehr, dass sie im weiteren Verlauf des Sommers noch durch viele Clubs zogen. Ein besonderes Erlebnis war der Auftritt der amerikanischen Pop-Punk-Gruppe The Gossip. Deren Sängerin und Frontfrau Beth Ditto war stimmlich und körperlich eine wahre Naturgewalt, und Lia und Mari waren wie elektrisiert von dem bebenden Sound. Da Beth Ditto aufgrund ihrer eigenen lesbischen Neigung auch viele Anhänger aus der Szene hatte, war die Vielzahl an lesbischen Konzertbesucherinnen nicht ungewöhnlich. Plötzlich jedoch, als Lia mit Mari im Kreis einiger anderer Frauen tanzte, begriff sie, dass man auch sie und Mari für ein Paar halten konnte.
    Mari ist die beste Freundin, die ich je hatte. Es ist beinahe, als wäre ich verliebt.
    Wenn sie in einem Café saßen, machten sie sich manchmal einen Spaß aus Maris Fähigkeit.
    »Der da«, sagte Lia dann zum Beispiel. »Was siehst du ihm an?«
    Mari warf einen Blick hinüber und erzählte.
    »Dieser junge Mann studiert Geschichte, schon länger. Er wartet auf seine Freundin, der er etwas sagen muss. Nichts Erfreuliches; zwar will er die Beziehung nicht beenden, aber möglicherweise steht ihm der Umzug in eine andere Stadt bevor oder etwas in der Art.«
    »Die Frau dort hat ein Problem. Ein Gesundheitsproblem, sie leidet an schweren Unterleibsbeschwerden. Sie hat Angst.«
    Einmal, als sie einen Mann betrachtete, begann Mari: »Er ist äußerst konzentriert, irgendeine Arbeit nimmt ihn in Anspruch und fordert extreme Konzentration, wie bei Beth Ditto neulich im Konzert …«
    »Was?«, fiel Lia ihr aufgeregt ins Wort. »Hast du gesehen, was Beth Ditto dachte?«
    Mari wirkte verwundert.
    »Warum sollte es schwieriger sein, berühmte Menschen zu deuten? Wenn ich jemanden sehe, kommen mir automatisch Beobachtungen in den Sinn. Dagegen kann ich nichts machen.«
    »Na, und was hat sie gedacht?«
    »Als sie auf die Bühne kam, war sie in einem Zustand vollkommener, fast fanatischer Konzentration – so wie viele Künstler. Sie dachte an die ersten Worte ihres Songs, denn die waren wie der Anfang einer Filmrolle, von der sie sich mitreißen ließ.«
    »Und sie hat nichts anderes gedacht? Zum Beispiel ›Verdammt, mein Slip rutscht!‹ oder ›Da sind ein paar tolle Frauen im Publikum‹?«
    »Vielleicht«, antwortete Mari frustriert. »Ich bin kein Radargerät, das jede Sekunde aufzeichnet. Ich habe mitgesungen und war … Teil des Publikums.«
    »Entschuldige, ich war einfach neugierig.«
    »Schon gut, ich bin ja auch immer wieder neugierig darauf, was in einem Menschen steckt«, lächelte Mari.
    Bald entwickelten sie eine eigene Sprechweise, einen eigenen Wortschatz.
    Er enthielt finnische Wörter, für die es im Englischen keine exakte Entsprechung gab. Sie sprachen Englisch miteinander, weil beide längst in dieser Sprache dachten, aber manchmal ließ sich ein Gedanke am besten vermitteln, indem sie ein finnisches Wort einflochten.
    Zum Beispiel kuuri, die Zeit, in der man etwas entweder in großen Mengen oder gar nicht zu sich nimmt. Das Wort kuuri war emotionaler als das englische diet . Beim Filmfestival machten sie eine Philip-Seymour-Hoffman- kuuri . Lia überredete Mari zu einer Jogging- kuuri , doch nach dem zweiten Mal erklärte Mari, sie würde lieber aufhören. »Jogging ist dein Ding«, stellte sie fest.
    » Kännit «, sagte Lia. »Wir saufen uns einen an.«
    Mari verstand, was sie meinte. Sie wollten nicht drunk , einfach nur betrunken werden, und auch nicht pissed , ein unangenehmer und unkontrollierter Zustand, in den sich vor allem Jugendliche soffen. Sie waren erwachsene Frauen, und sie betranken sich planmäßig.
    »Kein Wunder, dass man kännit sagt, im Plural. Es geht um gemeinsames Trinken, um kameradschaftliches Saufen«, meinte Lia.
    Sie bestellten Wodka. Lias Lieblingswodka war der polnische Zubrovka, während Mari den russischen Klassiker Stolit š naja bevorzugte.
    Wenn sie trank, war Mari lockerer und gesprächiger als sonst.
    Dennoch erwähnte sie ihre Fähigkeit mit keinem Wort, wenn andere in der Nähe waren. Lia begriff, dass auch sie darüber schweigen musste.
    Mitunter sprachen sie lange über gesellschaftliche Fragen. Dann diskutierten sie lebhaft und waren oft unterschiedlicher Meinung. Doch am Ende verschmolzen ihre Gedankenwelten auf eine Art, die Lia mochte. Besonders gefielen ihr Maris Ideen über die Gleichberechtigung.
    »Das ist mein

Weitere Kostenlose Bücher