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Die Frau ohne Gesicht

Die Frau ohne Gesicht

Titel: Die Frau ohne Gesicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pekka Hiltunen
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Bhopal wurde weit über Indien hinaus zum Synonym für Ungerechtigkeit.
    »Ich war zwei Mal dort«, erzählte Mari.
    Lia sah sie überrascht an.
    »Warum?«
    »Es klingt komisch, ich weiß. ›Betroffenheitstourismus‹. Aber ich wollte die Spuren des Unglücks mit eigenen Augen sehen.«
    Bhopal war wie jede andere indische Großstadt: schmutzig weiß, rot, türkis und grau. Die Luft voller Staub. Im Erdgeschoss der Häuser befanden sich kleine Läden. Zwischen Menschen und Hunden sausten Motorräder und Rikschas herum. Außergewöhnlich an dieser Stadt war nur, dass einmal ein Unglück viele Menschen vernichtet und anderen schlimme Krankheiten gebracht hatte, und dass man nichts gegen die Bitterkeit getan hatte, die daraus entstanden war.
    Mari war für die Ortsansässigen nur eine von Hunderten Ausländern, die durch die Straßen liefen und Fragen stellten: Reporter, Wissenschaftler, Polizisten, Beamte. Die Leute in Bhopal erzählten ihr dasselbe wie allen anderen zuvor. Von den Problemen ihrer Familien, von einer Mutter, die gestorben war, von einem gelähmten Onkel.
    »Sie haben die Wahrheit gesagt, aber etwas fehlte.«
    Bei ihrer zweiten Reise, vier Jahre später, wusste Mari bereits, was sie hören würde und was sie daraufhin fragen musste. Einige erinnerten sich sogar noch an sie. Alle Einwohner der Stadt hatten Menschen gekannt, die bei dem Unglück ums Leben gekommen waren. Familien hatten ihren Ernährer verloren, familiäre Wärme und Traditionen waren verloren gegangen.
    Der Unfall war zum Scheidepunkt geworden: Es gab ein Davor und ein Danach. Er war auch zum Maßstab für Menschlichkeit und Recht geworden. Solange die Menschen von Bhopal nicht entschädigt wurden, konnten sie mit dem Begriff Gerechtigkeit nichts anfangen. Und vielleicht war Hoffnungslosigkeit das treffendste Wort für ihre Erfahrung. Über die Verluste kam man hinweg, nach und nach. Was man nicht verwinden konnte, war die Tatsache, dass einem die menschliche Würde geraubt worden war.
    Für Mari war das Bhopalunglück ein Lehrstück über die Logik und das Verhalten des Großkapitals.
    »Von mir aus darfst du das gern psychologisieren«, fügte sie hinzu. »Die Tochter einer linksorientierten Familie und die Schlechtigkeit der Welt.«
    Lia lächelte über ihre Bemerkung.
    Schade, dass wir über unsere besten Eigenschaften spötteln müssen.
    Sie brachte das Gespräch wieder auf den Mordfall in der Holborn Street.
    »Kannst du aufgrund der Tat etwas über den Mörder sagen? Verrät sie etwas über ihn?«, fragte sie.
    »Wenn du meinst, ich könnte allein anhand der Nachrichten erkennen, was für ein Mensch der Täter ist, muss ich dich enttäuschen. So stark ist meine Fähigkeit nicht.«
    »So habe ich es nicht gemeint.«
    Lia berichtete von dem Leserbrief des Kriminologen, der den Fall als beispielhaft für seine These betrachtete, dass Verbrechen in den letzten Jahrzehnten immer spektakulärer geworden seien.
    »Du hast dich wirklich intensiv damit beschäftigt«, sagte Mari.
    »Ja. Aber siehst du irgendetwas … anderes?«
    »In dem Gebiet kenne ich mich nicht aus. Aber lass mich mal überlegen.«
    Mari seufzte und dachte nach.
    »Die Frau wurde von einer Planierraupe überrollt und mitten in London zur Schau gestellt. Meiner Meinung nach ist das eine Botschaft an irgendjemanden.«
    Lia nickte.
    »Der Täter wollte die Frau nicht nur töten, sondern auch entehren«, fuhr Mari fort. »Er wollte sie vom Erdboden verschwinden lassen, in die tiefste Hölle stoßen. Totale Macht demonstrieren.«
    Das Ganze wirke wie die Tat organisierter Krimineller, doch es müsse mehr dahinterstecken. Warum hatte man die Leiche mitten in der City deponiert, wenn sie nicht identifiziert werden sollte? Natürlich, damit der Fall Schlagzeilen machte.
    »Ich würde vermuten, dass eine unbegreiflich brutale Person die Frau bestrafen und gleichzeitig andere warnen wollte: So ergeht es euch, wenn ihr nicht gehorcht«, schloss Mari.
    »Erinnerst du dich, dass ich dir gesagt habe, du würdest eine hervorragende Polizistin abgeben?«
    »Danke, aber ich werde keine Polizistin.«
    Als sie beim letzten Drink angelangt waren, fragte Lia: »Findest du es makaber, dass ich so viel über den Mord nachdenke?«
    »Nein. Ich finde, man sollte sich mit dem beschäftigen, was einem wichtig ist.«
    Nach dem ersten Schock hatte Lia festgestellt, dass sie keine Furcht mehr empfand. Der Mord war immer noch grauenhaft, aber ein neues Gefühl war in den Vordergrund getreten: Sie

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