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Die Frau ohne Gesicht

Die Frau ohne Gesicht

Titel: Die Frau ohne Gesicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pekka Hiltunen
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persönlicher Feminismus«, erklärte Mari. »Ich habe die Dinge in meinem Leben identifiziert, die mein feministisches Bewusstsein wecken.«
    Wer seine eigenen Probleme erkenne, fand Mari, der finde die Kraft zu handeln und merke gleichzeitig, was einem an den Problemen anderer Menschen unverständlich sei. Das höre sich einfach an, aber erstaunlich viele Menschen – viele Frauen – dächten nicht darüber nach.
    »Das bedeutet nicht, nur die eigenen Interessen im Kopf zu haben«, präzisierte sie. »Es geht nicht darum, nur die Gleichberechtigung zu fordern, die man selber braucht. Man muss Prinzipien haben. Und begreifen, dass man diese Dinge auch für andere tut.«
    Welches die Probleme in ihrem Leben gewesen waren, sagte Mari nicht.
    Für Lia war der Gedanke hilfreich. Sie brauchte kein schlechtes Gewissen mehr zu haben, wenn sie den Feminismus anderer Frauen nicht teilte. Es genügte, ihren eigenen zu verfeinern.
    Im Lauf des Sommers erkannte Lia, dass ihr Leben fröhlicher geworden war, dass sie zu einer Stimmung zurückgefunden hatte, die sie aus ihrer Jugend kannte. Manchmal fühlte sie sich in Maris Gesellschaft auch jünger, fast so wie Anfang zwanzig.
    Mari ist die Freundin, die ich gebraucht hätte, als ich nach London kam. Wir tun genau das, was ich damals gern getan hätte.
    Obwohl sie nicht mehr oft über Finnland sprachen, erinnerte Lia sich plötzlich an Dinge, die sie vergessen hatte. An die Stille, die sich an Samstagabenden über alle Städte legte, sogar über Helsinki. An das tröstliche Gefühl, dass man jedem Gesprächspartner gleichrangig war. Solche Gedanken hatte sie seit Jahren nicht mehr gehabt. Zum ersten Mal seit langer Zeit dachte sie mit Wärme an ihr Heimatland.
    Finnische Mädchen in den Bars von London. Eine Generation, in der sich die Kraft unabhängiger Frauen gesammelt hat.

8.
    Lia erzählte Mari auch von ihrem Erlebnis im Frühjahr.
    »Dieser barbarische Mord geht mir immer noch im Kopf herum.«
    »Gibt es etwas Neues darüber?«
    »Nein. Das ist ja das Seltsame.«
    Man hätte erwartet, dass die Polizei die Tote inzwischen identifiziert oder einen Augenzeugen gefunden hätte, der beobachtet hatte, wie der Wagen auf dem Bürgersteig abgestellt worden war, aber nichts dergleichen.
    »Was bedrückt dich so an diesem Verbrechen?«
    Lia konnte es nicht erklären. Sie hatte einfach unendliches Mitleid mit der ermordeten Lettin.
    »Das ist völlig verständlich«, sagte Mari.
    Sie erinnerte sich, irgendwo gelesen zu haben, dass jeder erwachsene Mensch irgendwann in seinem Leben plötzlich angesichts einer Krise zum Stillstand kommt. Auf einmal interessiere er sich für ein schweres Unglück oder einen Krieg in einem fernen Land.
    »Vielleicht will man sich gerade deshalb mit dieser einen Krise auseinandersetzen, weil man normalerweise über diese Dinge nicht nachdenkt. Man will verstehen, was da passiert, und sich zugleich selbst erforschen. Eine Gelegenheit, sich neu zu erschaffen.«
    »Manchmal kommt deine psychologische Ausbildung voll durch«, stellte Lia trocken fest.
    »Entschuldige, ich wollte dir keinen Vortrag halten. Aber hast du nicht selbst schon so etwas gedacht?«
    Lia nickte. Mari erzählte, sie hätte in jüngeren Jahren eine ähnliche Erfahrung gemacht.
    »Hast du je von Bhopal gehört?«
    »In Indien, oder? Da war irgendein Unglück«, erinnerte sich Lia.
    1984 , als sie noch ein kleines Mädchen gewesen sei, sagte Mari.
    »Wichtig wurde es für mich aber erst später, als Teenager. Damals habe ich in der Zeitung gelesen, wie unglaublich mies die Leute dort behandelt wurden.«
    Die indische Stadt Bhopal in Indien war der Weltöffentlichkeit völlig unbekannt, bis sich dort einer der größten Industrieunfälle aller Zeiten ereignete. In den Morgenstunden des dritten Dezember 1984 erwachten die Einwohner der Stadt, weil sie kaum noch Luft bekamen. Es war, als wüte ein Feuer in ihren Lungen. Aus der Pflanzengiftfabrik des amerikanischen Konzerns Union Carbide war eine große Menge giftiges Gas entströmt. Offiziell wurde die Zahl der Todesopfer mit 3800 angegeben, anderen Schätzungen zufolge lag sie mehrere Tausend höher. Seit 1984 sind an den Folgeerkrankungen möglicherweise 20000 Menschen gestorben.
    Einige betroffene Menschen gingen vor Gericht. Doch der Prozess zog sich jahrzehntelang hin, und die Entschädigung, die sie erhielten, war ihrem Leid nicht annähernd angemessen. Zudem wurde die Untersuchung des Unglücks schlampig durchgeführt. Der Name

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