Die Frau ohne Gesicht
Ich müsste wissen, ob Matt Thomas mich wählt. Vermutlich tut er es nicht.«
»Warum sprichst du ihn nicht einfach darauf an? Vielleicht schätzt er offene Worte?«
Lia zog eine Grimasse.
»Nein. Wenn ich ihm zeige, dass ich den Job will, bereitet es ihm umso mehr Freude, ihn mir nicht zu geben.«
»Klingt nach einem unangenehmen Typen.«
»Unangenehm ist untertrieben. Ich muss wohl anfangen, mich nach freien Stellen umzuhorchen.«
»Lass mich über die ganze Angelegenheit nachdenken. Vielleicht fällt mir etwas ein«, sagte Mari.
»Was hast du im Sinn?«
»Nichts.«
»Gut. Ehrlich gesagt habe ich Angst davor, dass Thomas einfach Nein sagt.«
»Das kann passieren. Aber dann wüsstest du immerhin, woran du bist. Willst du meine Hilfe, falls mir etwas einfällt?«
»Natürlich. Sofern du nicht vorhast, den Herrn Chefredakteur zu ohrfeigen.«
10.
Mitte August rief Mari an und bat Lia, sich am 25. ab ein Uhr Zeit für ein langes Mittagessen zu nehmen. Sie trafen sich mitunter zum Lunch, doch diesmal schien es sich um etwas Besonderes zu handeln, denn Mari riet Lia, sich mindestens zwei Stunden, besser noch den Rest des Tages freizunehmen.
Eine Erklärung gab sie nicht. Lia trug den Termin in ihren Kalender ein und schrieb dazu: Etwas Nettes.
Am Montag, dem 25. August, wartete Mari pünktlich zur verabredeten Zeit vor dem großen Gebäude, in dem Level und zig andere Unternehmen ihren Sitz hatten. Als Lia auf die Straße trat, hielt Mari ein Taxi an.
»Es ist nicht weit, aber wir haben es eilig«, erklärte sie und nannte dem Fahrer eine Adresse in der Park Street in Bankside.
Lia stellte keine Fragen. Sie wollte Mari die Überraschung nicht verderben.
In Bankside erwartete sie ein ähnlich großes Bürohaus wie das von Level . Mari eilte mit Lia ins Foyer, wo sie den Aufzug betraten und in die oberste Etage fuhren. Als sie ausstiegen, sah Lia sich um. Es gab zwei Türen. An der kleineren stand Clarke Holdings. Mari ging zielstrebig zu der größeren Tür, an der gar nichts stand, und schloss auf.
Sie kamen in einen langen, halbdunklen Gang, von dem weitere Türen abgingen. Mari öffnete die zweite auf der linken Seite. Dahinter lag ein kleines Konferenzzimmer. Ein Tisch und acht Stühle, unter der Decke ein Beamer. Lias Grafikerblick wusste die minimalistische Einrichtung zu schätzen.
Die Möbel waren Designerstücke, die Lampen waren mit Überlegung platziert worden. Über die weißen Wände lief ein dezentes abstraktes Muster. Auf dem Tisch standen zwei Laptops, über deren Monitore die Wellen eines Bildschirmschoners zogen. Daneben zwei Teller, Besteck und Pappschachteln mit Gerichten eines chinesischen Take-aways.
»Soll das ein Arbeitsessen werden?«, fragte Lia amüsiert.
»In gewisser Weise«, antwortete Mari geheimnisvoll und führte Lia an den Tisch. Dann sah sie auf die Uhr und sagte, sie hätten sechs Minuten Zeit, um mit ihrer Mahlzeit zu beginnen.
»Beim Essen erzähle ich dir, was gleich in Brompton passieren wird.«
Sie öffnete die kleinen Boxen, reichte sie nacheinander Lia und nahm sich anschließend ebenfalls davon. Neugierig kostete Lia von ihrer Portion.
»In diesem Moment ist dein Chef Matt Thompson auf dem Weg zu einem Interview«, begann Mari.
Thomas war von einem Unternehmen namens Lift nach Brompton eingeladen worden. Aus der Einladung ging hervor, dass Lift eine Headhunter-Firma war, die eigenverantwortliche, vertrauliche Hintergrundinterviews und Einstellungstests durchführte.
»In einigen Minuten betritt Thomas die Räume der Firma, und wir erleben das Treffen live mit.«
Lias Essstäbchen fielen klappernd auf den Teller.
»Was soll das heißen?«
Stille Zufriedenheit lag auf Maris Gesicht.
»In Wahrheit existiert die Firma gar nicht.«
Im Interview würden sie hören, was Thomas von seinen Mitarbeitern hielt – unter anderem von Lia. Und wenn Thomas ging, würde er immer noch glauben, an einem vertraulichen Jobtest teilgenommen zu haben.
»Nein, Mari. Nein!«
Lia sprang schockiert auf.
»Dann brauchst du ihn nicht selbst zu fragen«, sagte Mari.
»Soll das ein Witz sein? Um so etwas habe ich dich nie gebeten. Thomas merkt doch sofort, dass da etwas faul ist.«
»Nein, tut er nicht. Er führt ein interessantes Gespräch und hat keine Ahnung, worum es in Wahrheit geht. Er weiß nicht, dass das Interview etwas mit dir zu tun hat.«
»Aber er ist nicht dumm. Ein Widerling, das ja, aber clever! Wenn er merkt, dass die Geschichte nicht stimmt, kann ich
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