Die Frau ohne Gesicht
mich bei Level nicht mehr blicken lassen.«
»Verlass dich auf mich«, sagte Mari. »Du hast mich nach meiner Arbeit gefragt. Nun – das ist meine Arbeit.«
Vor zehn Tagen hatte Matt Thomas einen Anruf bekommen. Die Anruferin hatte gesagt, sie arbeite für Lift, ein Unternehmen, das geheime Headhunting-Aufträge ausführe. Thomas sei als Chefredakteur für eine große Tageszeitung im Gespräch. Der Name der Zeitung werde nur denjenigen genannt, die die zweite Runde des Auswahlprozesses erreichten. Dann hatte die Anruferin gefragt, ob Thomas unter diesen Bedingungen zu einem Meeting bereit sei, bei dem er interviewt und getestet würde, natürlich vollkommen vertraulich.
»Thomas hat sofort zugesagt«, erzählte Mari grinsend.
Lia war fassungslos. Am liebsten hätte sie gebrüllt.
»Noch gut eine Minute«, sagte Mari. »Thomas ist mit der U-Bahn gefahren. Vom Ausstieg an der West Brompton ist er zuerst etwa dreihundert Meter die Old Brompton Road entlanggegangen und dann in die Seagrave Street eingebogen. Bald muss er da sein.«
Lia starrte ungläubig auf den Monitor, wo die Innenaufnahme einer Eingangshalle zu sehen war. Hinter einem halbkreisförmigen Empfangsschalter saß eine dunkelhaarige Frau.
Die Sekunden verstrichen. Lia schluckte, während sie die Aufnahme der Überwachungskamera betrachtete.
»Mal sehen, ob er pünktlich ist«, sagte Mari. »Ja, da kommt er schon.«
Der Mann, der das Foyer betrat, trug einen eleganten dunklen Anzug, und Lia erkannte ihn sofort. In der Redaktion sah man Matt Thomas nie mit Jackett, er zog es nur an, wenn er zu wichtigen Besprechungen ging.
Thomas trat an den Schalter und sprach mit der Empfangsdame. Lia sah Mari verstört an, denn es war kein Laut zu hören.
»Keine Sorge«, sagte Mari. »Aus dem Büro von Lift wird auch der Ton übertragen.«
Die Empfangsdame überreichte Thomas einen Besucherausweis. Er überlegte, ihn am Jackett zu befestigen, behielt ihn dann aber in der Hand, nickte der Frau zu und ging zum Aufzug.
»Arbeitet sie wirklich da?«, fragte Lia.
»Natürlich. Aber die beiden, die Thomas gleich interviewen, arbeiten für mich.«
Matt Thomas betrat den Aufzug.
»Mari, kannst du die Sache noch stoppen? Das ist Wahnsinn.«
»Nun reg dich nicht auf«, sagte Mari. »Guck es dir an.«
Sie klickte eine andere Ansicht auf den Monitor. Ein Konferenzzimmer mit Tisch und Stühlen, größer als das, in dem Lia und Mari saßen.
Kurz darauf trat Matt Thomas mit zwei weiteren Personen ein. Ihre Stimmen tönten metallisch aus den kleinen Lautsprechern, die vor Lia und Mari auf dem Tisch standen.
Lia wagte kaum zu atmen.
»Sie können uns weder hören noch sehen«, versicherte Mari.
»Bitte, nehmen Sie Platz«, sagte die Frau im Konferenzzimmer.
Thomas lächelte und setzte sich an den ihm zugewiesenen Platz. Vor ihm lagen ein Block und ein Stift. Die Interviewer nahmen ihm gegenüber Platz. Sie hatten Laptops, Mappen und Papiere vor sich.
Eine etwa fünfzigjährige blonde Frau leitete das Gespräch. Ihr Assistent war ein Mann um die dreißig, dessen Gesichtszüge auf indische Abstammung hindeuteten und dessen Aussprache ihn als akademisch gebildet auswies.
»Wir zeichnen diese Begegnung auf«, sagte die Frau und zeigte auf die Kamera, deren Aufnahme Lia und Mari sahen.
»Alle Aufzeichnungen werden sorgfältig aufbewahrt und nach sechs Monaten gelöscht. Außer den Mitarbeitern von Lift bekommt sie niemand zu sehen. Und wir unterliegen natürlich der Schweigepflicht.«
Matt Thomas nickte.
Er ist nervös, dachte Lia und merkte, dass sie ein wenig freier atmen konnte.
»Für die Aufzeichnung stelle ich also fest, dass Carol Penn und Robert Cansai ein Interview mit Mr Matt Thomas, dem Chefredakteur von Level , führen. Es handelt sich um ein Erstinterview, und heute ist der 25. August. Mr Thomas, würden Sie uns bitte erzählen, warum Sie sich entschieden haben, bei Level zu arbeiten?«
Die Frage kam schnell, doch Matt Thomas war vorbereitet.
»Es war eine Mischung aus neunzig Prozent Vernunft und zehn Prozent Gefühl. Eine Zeitschrift zu machen erfordert solide Kenntnis der ökonomischen Gegebenheiten, die Definition der inhaltlichen Prinzipien und Führungsdenken, aber als Chefredakteur muss man auch fähig sein, Teamgeist zu schaffen. Level ist traditionell eine unabhängige Zeitschrift, und neben der Qualität hat mich auch ihre Originalität angesprochen«, erklärte Thomas.
»Puh«, stöhnte Mari, »auswendig gelernt und pompös.«
Die
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