Die Frau ohne Gesicht
oder einem ähnlichen Fahrzeug überrollt worden.
DER GRAUSAMSTE MORD DE S 21. JAHRHUNDERTS ? VON EINER VERBRECHERBANDE BRUTAL HINGERICHTET , so oder ähnlich überschlugen sich die Schlagzeilen. Mit schlechtem Gewissen kaufte Lia jene Blätter, die am ausführlichsten über den Fall berichteten. Verstohlen legte sie sie auf ihren Schreibtisch und las sie neben ihrer Arbeit.
Die Meldung von einer Exekution des Opfers durch eine Gangsterbande beruhte auf der brutalen Verstümmelung der Leiche und darauf, dass man sie in einem gestohlenen Wagen abgelegt hatte. »Gestohlene Fahrzeuge zu verwenden ist eine typische Methode von Berufsverbrechern«, stützte man die Behauptung in einer der Zeitungen.
Das mag ja stimmen. Aber es ist kein ausreichender Beweis , dachte Lia verärgert.
Erleichtert las sie im Internet, dass die Todesursache bisher nicht hatte festgestellt werden können. Das ließ immerhin die Möglichkeit offen, dass das Opfer erst nach seinem Tod überrollt worden war.
Die Bezeichnung »Die Frau ohne Gesicht« hatte sich inzwischen auch in anderen Medien verbreitet. Lia merkte, dass sie den Namen verabscheute, und als sie am Ende des Arbeitstages den Computer ausschaltete, dankte sie ihrem Schicksal dafür, bei einer respektablen Zeitschrift angestellt zu sein, die zwar gelegentlich mit Geschichten über Prominente Leser anlockte, von ihren Mitarbeitern aber nicht verlangte, sich widerliche Spitznamen für Verbrechensopfer auszudenken.
An diesem Abend forschte sie auch zu Hause im Internet weiter über den Fall nach. Und nachdem sich die schlimmste Erschütterung gelegt hatte, begriff Lia langsam, dass nicht die Tatsache, dass sie den Fundort der Leiche gesehen hatte, sie aus dem Gleichgewicht gebracht hatte, sondern die Tatsache, dass jemand einer Frau so etwas antat.
Wie naiv ich bin. Ich bin siebenundzwanzig, bald achtundzwanzig, und habe mir tatsächlich noch nie Gedanken darüber gemacht, dass so etwas jedem zustoßen kann.
Es war entsetzlich, an den Tod der Unbekannten zu denken. Der bloße Gedanke verursachte ihr nahezu körperlichen Schmerz. Dennoch konnte Lia nicht aufhören, sich die Einzelheiten vorzustellen. Jemand hatte die Frau mit einer Planierraupe überrollt. Und dann aufgesammelt, was von ihr übrig geblieben war.
Erst als sie die Tränen auf ihren Händen spürte, merkte sie, dass sie weinte. Was passierte hier? Aus irgendeinem Grund fühlte sie sich in die Angelegenheit mehr als normal involviert, sie wusste nicht wieso, aber seit jenem Morgen war sie nicht nur aus der Bahn geworfen, sie war von einer Hoffnungslosigkeit überwältigt, die sie geradezu lähmte. Immer wieder jagten ihr dieselben Fragen durch den Kopf:
Welcher Mensch ist zu so einer Tat fähig?
Woher kommt nur das unendlich Böse, das in ihm stecken muss? Kam er so auf die Welt oder hat ihn irgendetwas zu dieser grauenhaften Tat getrieben?
Vor Jahren hatte Lia selbst einmal um ihre Sicherheit fürchten müssen. Doch im Vergleich zu diesem Verbrechen war das gar nichts gewesen.
Bisher habe ich nie um ein Opfer getrauert. Bin ich so kalt, dass mich erst ein derart brutaler Mord aufrüttelt?
Sie blickte aus dem einzigen Fenster ihrer Wohnung auf die benachbarte kleine Kirche und auf die Statuen im Park, die in der Dunkelheit kaum noch zu erkennen waren. Der toten Frau konnte niemand mehr helfen. Was blieb, war nur sie selbst. Sie selbst und ihre alte Furcht.
In dieser Nacht schlief sie ruhig bis zum nächsten Morgen.
Am dritten Tag war das Verbrechen aus den Nachrichten verschwunden. Es gab keine neuen Erkenntnisse, und Spekulationen wurden nur noch von Experten in Kommentaren angestellt. Die Daily Mail veröffentlichte den Leserbrief eines Kriminologen, der die Tote in der Holborn Street als Teil einer Entwicklungslinie betrachtete, die bei Gewaltverbrechen zu beobachten sei: Die Verbrechen im wirklichen Leben und die fiktiven, spektakulären Taten in Fernsehserien und Filmen würden sich immer ähnlicher.
»Die Leiche mitten in der City zu hinterlassen ist reines Theater. Ein Drama der Grausamkeit, bei dem der Ort der Aufführung von Bedeutung ist«, erklärte der Wissenschaftler.
Mein Gott, er hat sicher recht, aber muss er die Angehörigen des Opfers mit seinen Spekulationen quälen?
Doch dann fiel Lia wieder ein, dass die Frau laut Polizeibericht noch immer nicht identifiziert war, Familie und Freunde des Opfers folglich noch gar nichts von dem Unglück wussten.
Womöglich weint in diesem Moment also
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