Die Frau ohne Gesicht
eine Namensliste. All das haben sie in zwei Wochen auf die Beine gestellt.
»Morgen geht der Zirkus richtig los. Dafür sorgt Rico«, berichtete Mari.
Rico hatte ein Programm erstellt, das den Kundendienst von Orpheus pausenlos mit Anrufen bombardieren würde.
Man ließ die Telefonkampagne mit Hilfe der Studenten langsam anlaufen, damit kein Zweifel an der Echtheit der Beschwerden aufkam. Ricos Computer würden ab morgen täglich Tausende von Anrufen tätigen. Wenn ein Orpheus-Mitarbeiter sich meldete, würde der Computer die Verbindung unterbrechen. Bei einigen Anrufen würde der Kundendienstmitarbeiter die empörte Beschwerde eines Kunden hören, bevor das Gespräch abbrach. Diese Kunden existierten nicht: In das Programm waren Tonaufnahmen integriert; die Sprecherin war Maggie Thornton, deren Stimme Rico digital modifiziert hatte.
»Wir werden die Telefonzentrale bei Orpheus total lahmlegen«, sagte Mari.
Lia sah sie verwundert an.
»Du ziehst ein Riesentheater auf und genießt es.«
»Hundertprozentig.«
»Und die Anrufe von echten Menschen? Was wird aus denen, die wirklich Probleme mit ihrem Anschluss haben?«
»Die haben Pech, aber das lässt sich nicht vermeiden. Wir wollen, dass Hunderttausende ihren billigen Anschluss behalten.«
Im Flur entdeckte Lia ein schwarzes Brett, an das zahllose Zettel angepinnt waren. Hauptsächlich handelte es sich um Flugblätter für Aktionen von »Consume With Care«, dazwischen hingen Aufrufe anderer Verbraucherorganisationen und ein Leitfaden über die Tarifrechte von Call-Center-Mitarbeitern.
Zum Teil sind das sicher Papiere echter Organisationen. Bestimmt hat Berg sie besorgt und den Rest selbst hergestellt.
Es war eine beeindruckende Arbeit. Einige Zettel waren vergilbt, als hingen sie schon ewig an der Wand.
Die Umfrage von AskIng wurde rasch von den Printmedien aufgegriffen und führte zu Beiträgen in der digitalen und der gedruckten Ausgabe der Daily Mail , des Telegraph und des Guardian , den Lia täglich las. Auch in der Redaktionssitzung von Level kam das Thema zur Sprache, wurde jedoch vorläufig auf die Warteliste gesetzt.
Als die Telefonzentrale von Orpheus an zwei aufeinanderfolgenden Tagen zusammenbrach, schaffte das Thema den Sprung in die Hauptnachrichten der Fernsehsender. Einige Parlamentsabgeordnete nutzten die Chance, bei den Wählern Punkte zu sammeln, und forderten Orpheus auf, die Vertragskündigungen rückgängig zu machen.
Mari rief Lia an, um ihr die gute Nachricht zu überbringen.
»Wir verfolgen die Situation an Ricos Rechnern in Realzeit. Orpheus hat in den letzten zwei Tagen zigtausend Anrufe bekommen. Im Moment würde nicht einmal Queen Elizabeth die Firma erreichen.«
Dass der Kundendienst und die Telefonzentrale zusammengebrochen waren, verärgerte die anderen Kunden von Orpheus. Die Manager und PR -Leute des Unternehmens, die in den Nachrichten interviewt wurden, wirkten gequält. So viel Widerstand habe man nicht erwartet, gab der leitende Pressesprecher zu.
»Man hat sich auf uns eingeschossen, obwohl es im Vergleich zu den wirklichen Problemen Großbritanniens um eine Bagatelle geht«, äußerte er gegenüber der BBC .
»Keine besonders intelligente Verteidigung«, meinte Mari.
Bald verbreitete sich die Nachricht, dass auch bei den Verbraucherorganisationen Beschwerden über Orpheus eingegangen waren. Es war Lia klar, dass das Studio diese Anrufe organisiert hatte.
»Hast du schon gehört, dass Orpheus Tausende von E-Mails bekommen hat?«, fragte Mari.
»Von wem?«
»Von ganz normalen Leuten.«
»Consume With Care« hatte inzwischen viele Kunden dazu gebracht, sich schriftlich zu beschweren, wie es die Verbrauchervereine empfahlen. Außerdem kamen E-Mails von anderen Mitbürgern, die das Verhalten der Firma missbilligten. Die Kritik an Orpheus war zu einer Bewegung geworden, an der sich viele beteiligen wollten, weil hier endlich einmal die Konsumenten Gehör fanden.
Nach vier Tagen veröffentlichte die Firmenleitung einen Appell, in dem sie um Arbeitsfrieden bat.
»In dieser Situation ist es uns unmöglich, Beschwerden zu beantworten«, hieß es in dem Aufruf.
Der Wert der Orpheus-Aktien war innerhalb einer Woche um ein Drittel gesunken. Als der Appell an die Öffentlichkeit kam, fiel er fast auf die Hälfte. Die Flut der Anrufe und E-Mails ging nicht zurück.
Am Morgen des fünften Tages berichtete die Times , dass der Aufsichtsrat des Teleanbieters in den vergangenen Tagen vier Krisensitzungen einberufen
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