Die Frau ohne Gesicht
wohlfühlt. So sieht es jedenfalls aus.
»Ich habe ein Wort für das, was du tust«, sagte Lia, als sie zu zweit in Maris Zimmer saßen. »Betrug. Ihr führt die Menschen hinters Licht.«
Mari lächelte. Sie schien kein bisschen verlegen, sondern eher belustigt.
»Natürlich betrügen wir. Das finde ich völlig okay.«
Sie überlegte eine Weile.
»Betrug klingt, als wäre unsere Arbeit unmoralisch. Für mich ist aber vielmehr der Begriff einer Moral, in dem Menschen allein im Rahmen der Gesetze handeln müssen, komisch und veraltet, Gesetze und Konventionen lassen entsetzliche Dinge zu.«
Lias Widerstand bröckelte. Es kam ihr plötzlich albern vor, von Betrug zu sprechen.
»Ich habe Dutzende von Einsätzen ausgeführt, die man wohl als Betrug bezeichnen könnte. Aber das Wort klingt so negativ. Dabei hat unser Betrug oft positive Folgen, und zwar nicht nur für uns, sondern auch für andere Menschen«, fuhr Mari fort.
»Trotzdem weiß ich nicht, ob ich bei so was mitmachen möchte«, sagte Lia.
»Habe ich dich gebeten, bei irgendetwas mitzumachen?«
»Nein. Aber die Sache mit Matt Thomas hast du meinetwegen aufgezogen.«
Für Lia bestand kein Zweifel daran, dass Mari ihre Freundschaft gesucht hatte, um sie an das Studio zu binden.
Mari schwieg für einen Moment. Dann sagte sie ernst: »Ich habe nicht die Absicht, dich in irgendetwas hineinzuziehen, das du nicht willst. Ich wollte dich nicht kennenlernen, um dich … auszunutzen. Wir sind Freundinnen.«
Lia war erleichtert, als sie diese Worte hörte.
»Thomas’ Interview war meine Art, einer Freundin zu helfen«, fuhr Mari fort. »Natürlich freue ich mich, wenn du irgendwann einmal hier mitarbeiten willst. Aber das ist allein deine Entscheidung.«
»Gut zu wissen«, sagte Lia.
»Du solltest auch wissen, dass ich das Studio nicht gegründet habe, um Leute hinters Licht zu führen. Ich mag es, dass ich die Dinge so hinbiegen kann, wie ich sie haben möchte.«
Lia hörte schweigend zu. Endlich redete Mari offen mit ihr.
»In meiner Jugend wusste ich, was die Menschen denken, konnte dieses Wissen aber nicht nutzen. Ich habe mich vor sechs Jahren für London entschieden, weil es für das, was ich erreichen will, besser geeignet ist als die Orte, an denen ich früher gewohnt habe.«
Mari hatte nach ihrem Psychologiestudium unter anderem in den USA und in Spanien gelebt. Dort hatte sie ihre Jobs allein erledigt. Erst in London hatte sie sich ein Team von Helfern gesucht.
»Mit voller Kraft habe ich erst in den letzten Jahren arbeiten können. Ich habe Geld und Räumlichkeiten und fantastische Menschen, die mir helfen. Meine Fähigkeit wird sinnvoll genutzt. Ich verkaufe sie nicht, sondern setze sie ein, um mir selbst und denen, auf deren Seite ich stehe, Einfluss zu verschaffen.«
Lia nickte.
Mari ist die geborene Anführerin. Der intelligenteste Mensch, dem ich je begegnet bin. Sie besitzt eine gewaltige Menge an Wissen, als würde sie den ganzen Tag lang nur verfolgen, was in der Welt geschieht. Und dazu diese außergewöhnliche Fähigkeit. Natürlich entsteht daraus etwas Besonderes.
»Was passiert jetzt?«, fragte Lia.
»Zwischen uns?«
»Im Studio. Woran arbeitet ihr gerade?«
Mari zögerte.
»Das kann ich dir nur erzählen, wenn du versprichst, mit niemandem darüber zu sprechen. Über gar nichts, was wir hier tun.«
Lia hielt einen Moment inne.
Wenn ich jetzt Ja sage, bin ich dabei.
»Versprochen.«
»Okay. Lass uns nach draußen gehen.«
Als sie die Southwark Bridge Street überquerten, erzählte Mari, woran sie gerade arbeitete.
»Du hast sicher mitbekommen, was Orpheus sich geleistet hat?«
Lia erinnerte sich an den Fall, der etwa eine Woche zurücklag. Orpheus, einer der größten Teleanbieter des Landes, hatte mitgeteilt, er werde die billigsten Verträge kündigen, weil sie nicht genug abwarfen. Stattdessen wolle man teurere Anschlüsse anbieten.
Das Vorgehen wurde allgemein kritisiert, weil das Unternehmen profitabel war und die billigen Anschlüsse vor allem von Jugendlichen, alten Leuten, Arbeitslosen und anderen Einkommensschwachen genutzt wurden.
»Ja, ich weiß, mir gefällt das auch nicht. Und am übelsten fand ich, wie sie das Ganze durchgeführt haben«, erklärte Mari.
Orpheus hatte darauf spekuliert, dass es keinen nennenswerten Widerstand geben würde. Da die Firma das Recht hatte, ihre Verträge zu kündigen, konnten die Kunden nur versuchen, zu protestieren, oder einen anderen Anbieter wählen. Aber da den
Weitere Kostenlose Bücher