Die Frau ohne Gesicht
hatte. Drei Aufsichtsratsmitglieder hatten mit ihrem Rücktritt gedroht, würde die Kündigung der Billiganschlüsse nicht aufgehoben werden.
Um 14 Uhr teilte Orpheus in einer Pressekonferenz mit, billige Anschlüsse seien eine Notwendigkeit und man sei stolz darauf, sie auch künftig anbieten zu können. Die Führungskräfte des Unternehmens sahen aus, als hätten sie nächtelang kein Auge zugetan.
Mari rief Lia an.
»Hast du Zeit, ins Studio zu kommen? Wir feiern jetzt!«
Lia erledigte ihre Arbeit bei Level, so rasch sie konnte, und eilte nach Bankside. Die ganze Geschichte erschien ihr absurd.
Sie haben einen der größten Teleanbieter des Landes in einem riesigen öffentlichen Spektakel gedemütigt. Das Ganze kostet Orpheus zigtausend Pfund, vielleicht sogar Hunderttausende. Und dahinter steckt nur ein kleines Team.
Als sie ankam, feierten in der Küche des Studios nur noch Mari, Maggie und Berg – Rico und Paddy waren bereits gegangen. Maggie erzählte, sie habe zuvor im Büro von »Consume With Care« mit den Studenten angestoßen.
Die jungen Leute waren zufrieden. Sie waren für ihre Arbeit gut bezahlt worden und hatten zudem das Gefühl, an einer echten Konsumentenbewegung teilgenommen zu haben.
Das stimmte ja auch, nur steckte keine Verbraucherorganisation dahinter.
»Mein Gott, was für ein toller Tag«, seufzte Mari.
Lia fühlte sich bei aller Freude verwirrt.
Maggie und Berg tranken fröhlich ihren Sekt, dann verabschiedeten sie sich.
Lia und Mari blieben allein zurück und blickten auf die allmählich dunkler werdenden Straßen von Bankside.
»Eins der häufigsten Verbrechen unserer Zeit«, meinte Mari. »Es ist bloß nicht kriminalisiert. Ein Großunternehmen zieht den Leuten ihr bisschen Geld aus der Tasche. Nur um mehr Profit zu machen.«
Mari entkorkte eine Weinflasche. Während sie allmählich betrunken wurde, hielt Lia sich zurück.
»Ich weiß, dass dir nicht alles gefällt, was wir getan haben«, sagte Mari. »Aber meiner Meinung nach hatten wir das Recht, Orpheus an diesem unverschämten Vorgehen zu hindern.« Schließlich stellte Mari ihr Glas ab. »Jetzt haben wir unsere kännit getrunken. Das heißt, eigentlich doch nicht, du hast ja nicht richtig mitgemacht. Das ist mein … kekkuli .«
» Kekkuli . Das schönste finnische Wort für einen Rausch«, meinte Lia.
Mari konnte nicht mehr geradeaus gucken.
»Soll ich ein Taxi rufen?«, fragte Lia.
»Nur für dich. Ich bleibe hier, mit meinem kekkuli . Da kommt die Hängematte endlich mal zum Einsatz.«
Lia half ihr, eine der gemütlichen Matten herunterzulassen und sich hineinzulegen. Dann verließ sie das Studio und vergewisserte sich, dass die Tür fest ins Schloss fiel.
Im Lauf des Frühherbstes veränderte sich ihre Freundschaft. Sie gingen kaum noch aus, stattdessen rief Lia kurz vor Feierabend bei Mari an und fragte, ob sie im Studio sei, was fast immer der Fall war.
Oft legte Lia die kurze Strecke nach Bankside zu Fuß zurück. Sie brachte Mari und den anderen kleine Knabbereien mit, oft die gerösteten Nüsse, die Migranten aus Südeuropa auf der Millennium-Brücke feilboten. Dann saßen Lia und Mari stundenlang in Maris großem Arbeitszimmer und unterhielten sich.
Lia war klar, dass sie getestet wurde. Sie selbst hatte im Sommer Mari ausgelotet, und nun wollte Mari herausfinden, wie sie sich in die Arbeit des Studios einfügen würde.
Trotz Lias Fragen sprach Mari nicht über weitere Jobs. Sie sagte nur: »Darüber reden wir später.«
Mitunter bat sie Lia zu warten, wenn sie noch etwas zu erledigen hatte. Dann saß Lia in der Bude oder in einem der anderen Räume und blickte aus dem Fenster. Am liebsten würde sie die Aussicht auf das Viertel den ganzen Tag lang genießen. Von den beiden Räumen, die nach Norden gingen, hatte man Blick auf die Themse, durch deren graues Wasser Boote und Schiffe glitten. Von den anderen Räumen aus sah man ehemalige Industriebetriebe, in denen nun Dutzende von kleinen Firmen, Vereinen und Kulturzentren arbeiteten. Ganz in der Nähe befand sich eines der größten Kunstmuseen des Landes, die Tate Modern. Sie allein lockte täglich viele Besucher nach Bankside.
Lia schloss bald engere Bekanntschaft mit Maggie und Berg, die trotz ihrer Arbeit immer Zeit für ein Gespräch zu haben schienen. Rico dagegen sah sie nur manchmal im Vorbeigehen, Paddy gar nicht. Maggie und Berg wirkten sehr offen. Obwohl sie nach Lias Einschätzung in ihrem Fach großartig waren, gaben sie sich locker
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