Die Frau ohne Gesicht
wusste, dass sie Mari auf andere Weise nahestand als die anderen.
Das Team hatte Spitznamen für Mari. Miss Boss, sagte Berg. Maggie benutzte das französische Marie. Rico dachte sich immer neue Varianten aus: Maria, Marilyn, Marjorie. Lia hingegen betonte den Namen richtig – Mari. Kurze Vokale, rollendes R. Sie war die Einzige, die ihn so aussprach, wie Mari ihn in den ersten zwanzig Jahren ihres Lebens gehört hatte.
Und so störte es sie nicht, dass sie über vieles im Dunkeln gelassen wurde. Mari wollte sie sowohl in sicherer Distanz halten als auch in ihrer Nähe haben.
Die Idee kam Lia im September, mitten in der Planung eines komplizierten Layouts. Sie ließ sofort alles stehen und liegen, rief Mari an und sagte, sie werde am Abend ins Studio kommen.
Als sie in Bankside ankam, sprudelte sie sofort los: »Ich habe einen Vorschlag.«
Maris Blick wurde wachsam.
»Lass hören.«
»Du könntest den Fall aus der Holborn Street untersuchen und herausfinden, warum die Lettin sterben musste.«
Mari sah Lia forschend an.
»Ich habe mir schon gedacht, dass du irgendwann darauf zurückkommst«, sagte sie dann ernst.
»Ich weiß, dass es bestimmt wahnsinnig schwierig ist. Aber du könntest es sicher schaffen.«
»Womöglich ist die Polizei mit ihren Ermittlungen längst vorangekommen. Oder weißt du, dass es nicht so ist?«
Lia überlegte. Tatsächlich, das wusste sie nicht.
»Aber wenn es wichtige Erkenntnisse gäbe, hätten sie doch die Medien informiert.«
Mari schüttelte den Kopf. Über Kriminalermittlungen veröffentliche man nicht ständig Pressemitteilungen, möglicherweise wolle die Polizei im Stillen arbeiten, um die Ermittlungen nicht zu gefährden. Es könne gefährlich sein, wenn das Studio sich mit einem schweren Verbrechen beschäftigte. Und obendrein die Arbeit der Polizei behindern.
Lia gab zu, dass Mari in allen Punkten recht hatte.
»Aber dir verraten auch kleine Details so viel. Und wenn du etwas herausfindest, gehen wir damit zur Polizei. Ich bitte dich nicht, einen Verbrecher zu jagen, sondern nur zu schauen, was du siehst.«
Mari war nicht begeistert. Es war eines ihrer wichtigsten Prinzipien, niemals mehrere Projekte gleichzeitig in Angriff zu nehmen. Und im Moment war bereits eine Operation angelaufen.
Die Arbeit bestand im Allgemeinen aus zwei Phasen, der langen, stillen Vorbereitung und der kurzen, intensiven Verwirklichung. Die Verwirklichung brauchte absoluten Spielraum. »In der letzten Phase kann einfach alles passieren! Wir müssen uns voll darauf konzentrieren. Und so ein Kriminalfall ist unkontrollierbar. Da kann man urplötzlich auf etwas stoßen, worauf man sofort reagieren muss«, erklärte sie.
Ein zweites Prinzip war, dass Mari zwar die Arbeit leitete, bei der praktischen Umsetzung aber im Hintergrund blieb. Sie wolle nicht erkannt und mit ihren Einsätzen in Verbindung gebracht werden. Vor allem wolle sie sich von der Polizei fernhalten.
»Warum denn?«, fragte Lia.
»Dafür gibt es eine Menge Gründe! Wir sind keine Verbrecher, aber vieles, was wir tun, ist illegal oder nur halb legal. Denk doch nur an Orpheus!«
Bei der Polizei bestand immer die Gefahr, dass sie anfing, Fragen zu stellen. Einige Polizisten entwickelten durch ihre Ermittlungstätigkeit ein besonderes Gespür dafür, Ungewöhnliches – und sei es noch so klein – zu wittern und Verdacht zu schöpfen. Dieses Gespür war Maris Fähigkeit verwandt, und sie wollte solchen Ermittlern nicht zu nahe kommen.
»Ich habe auch schon ein paar Mal mit Berufsverbrechern zu tun gehabt. Das war belastend und widerwärtig; ich will eine Wiederholung unbedingt vermeiden.«
»Na gut«, sagte Lia. »Wie wäre es dann, wenn du den Fall so untersuchst, dass du nicht mit der Polizei in Kontakt kommst. Oder mit Verbrechern? Du ermittelst aus der Distanz, und ich helfe dir, wo ich kann. Wenn wir nichts herausfinden, lassen wir es sein.«
Mari sah sie an: »Warum liegt dir so viel daran?«
»Ich weiß es nicht. Nenn es von mir aus Instinkt. Die Frau hätte es verdient, dass der Fall gründlich untersucht wird. Und du wärst dazu fähig.«
Mari schwieg, doch Lia merkte, dass ihre Worte etwas in Bewegung gesetzt hatten.
»In Ordnung, machen wir es so«, sagte Mari schließlich. »Aber du musst wirklich mithelfen. Wenn wir mit der Polizei Verbindung aufnehmen müssen, erledigst du das.«
»Einverstanden!«
»Ich gebe uns zwei Wochen. Danach entscheide ich, ob wir weitermachen, und du akzeptierst meine
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