Die Frau ohne Gesicht
und bescheiden. Über die Fälle, an denen sie arbeiteten, schwiegen auch sie.
Maggie erzählte von ihrer Bühnenlaufbahn, von den großen Rollen ebenso wie von den Engagements, die sie nur wegen der Gage angenommen hatte. Mit ihren Geschichten über berühmte West-End-Regisseure und über die Welturaufführung von Cats in London brachte sie Lia zum Lachen.
Maggie hatte zu dem ersten Ensemble gehört, dem das Musical seinen Ruhm verdankte. Jeden Abend hatten Intendanten großer Theater aus aller Welt im Publikum gesessen und waren am nächsten Tag zurückgekehrt, um auf Knien darum zu betteln, die Aufführungsrechte kaufen zu dürfen.
»Für jemanden in deinem Alter bedeutet diese Inszenierung nichts, aber damals war sie einzigartig«, erklärte Maggie mit leuchtenden Augen.
Sie erzählte, wer eine Rolle wegen seines Talents bekommen und wer dafür mit einem der Bosse geschlafen hatte, und wie das Ensemble dazu überging, sich schamlose Katzenwitze auszudenken, als das Musical immer weiter und weiter lief.
»Vom Ende des zweiten Jahres an haben wir jeden Abend ein neues Katzenpornofoto gemacht.«
Auf diesen Fotos posierten die Darsteller in ihren Katzenkostümen so, dass es aussah, als finde eine Orgie statt. In Wahrheit hatte keiner von ihnen nach der anstrengenden Aufführung noch Kraft, an Sex auch nur zu denken, aber irgendwie mussten sie ihre Katzenbeklemmung abbauen.
»Es sind mindestens dreihundert Fotos geworden. Hoffentlich landen sie nie im Internet, sonst fällt Andrew Lloyd Webbers Juristenarmee über uns her. Für Katzengruppensex können die sich bestimmt nicht erwärmen«, sagte Maggie und lachte schallend.
Lia fragte, ob das Studio nicht ein seltsamer Arbeitsplatz für eine Schauspielerin sei.
»Ich liebe das Studio. Hier bin ich mehr als nur Schauspielerin«, erwiderte Maggie. Und fügte hinzu, dass die Arbeit sie manchmal sogar an modernes Theater erinnere. Sie habe früher bei experimentellen Aufführungen mitgewirkt, die zum Beispiel nur jeweils einem Zuschauer vorgeführt oder bei denen die Ereignisse nur durch die Beleuchtung gezeigt wurden. Jetzt sei es ihre Aufgabe, neue Gestalten zu erschaffen, den Hintergrund zu recherchieren, die Aufführung zu planen, zu proben und zu spielen. Die Aufführungen seien komplexer als im Theater, denn außer der Gestalt selbst musste man eine ganze Welt um sie herum schaffen.
»Ich habe hier viel bessere Auftritte als die meisten Schauspieler. Und ich muss nicht mehr in irgendeinem Tierkostüm für Schokoriegel werben.«
Auch Berg hatte eine Theatervergangenheit. Er erzählte von seinem Vater, Bertil Berg, der in Schweden als Bühnenbildner gearbeitet hatte.
»Beim Dramaten, in der Königlichen Oper und bei allen großen Stadttheatern. Er war so meisterhaft, dass man in Schweden von ›Bertil Bergs Zauber‹ sprach. Die Leute kamen wegen seiner Bühnenbilder ins Theater. Als Kind wollte ich auch Bühnenbildner werden.«
Berg war auf den Vornamen seines Vaters getauft worden und dadurch immer Bertil Berg der Zweite gewesen. Vielleicht verwendet er deshalb hier nur den Nachnamen, dachte Lia.
Jahrzehntelang hatte er sich vom Theater ferngehalten. Er hatte Maschinenbau und Architektur studiert, Flugzeuge konstruiert, Häuser gebaut. Doch als er fünfzig wurde, hatte er einen Neuanfang gemacht und sich zum Bühnenbildner ausbilden lassen. Um Erfahrungen zu sammeln, hatte er kostenlos für Amateurtheater gearbeitet.
»Ich bin glücklich darüber, dass Mari mir diese Stelle angeboten hat«, sagte Berg. »Im Theater will ich nicht arbeiten, aber ich möchte Kulissen entwerfen. Hier kann ich sogar noch einen Schritt weiter gehen. Hier genügt es nicht, dass etwas gut aussieht . Ich erschaffe eine ›Wirklichkeit‹.«
Von Maris Fähigkeit schienen Maggie und Berg nichts zu wissen. Sie schätzten Mari nicht deshalb, weil sie Menschen lesen konnte, sondern weil sie eine intelligente Chefin war, die ihnen interessante Aufgaben übertrug.
»Hast du es ihnen nicht erzählt?«, erkundigte sich Lia bei Mari.
»Warum sollte ich?«
»Du hast selbst gesagt, ihr steht euch sehr nahe.«
»Lia, sie wissen es – auf irgendeiner Ebene.«
So aufmerksamen Menschen wie Maggie und Berg könne nicht entgehen, wie ihre Chefin dachte und handelte. Aber sie habe nie offen mit ihnen darüber gesprochen. »Es ist zu persönlich. Und manchmal auch ziemlich kompliziert«, fügte Mari hinzu.
Lia fühlte sich im Studio als Mitwisserin und zugleich als Außenseiterin. Sie
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