Die Frau ohne Gesicht
Lia.
»Ich weiß es nicht genau. Ein Stück aus einem alten Kinderreim, den ich gehört habe, als ich klein war. Nicht hier in London, sondern in Manchester. So wie ich es verstehe, besagt er, dass es in der Welt viel Zeit gibt, viele Türme und Ängste und Leiden. Und dass man sich deshalb gut überlegen sollte, welches Leid man sich aufbürdet.«
»Klingt wie ein alter Sinnspruch«, meinte Lia. »Mit dem man sich jahrzehntelang über Schwierigkeiten hinweggetröstet hat.«
»Sie haben nichts mit dem Verbrechen zu tun. Trotzdem wollen Sie sich ausgerechnet dieses Leid aufbürden«, sagte Gerrish mit leisem Hohn.
Lia zuckte zusammen. Es war, als hätte der Mann sie ins Gesicht geschlagen. Beißende Scham erfüllte sie. Ihr war klar, wie erschöpft Gerrish sein musste.
Er begegnet in seinem Beruf ständig dem Tod. Und versucht, dessen Logik zu erklären.
Dennoch hatte sie seine Geringschätzung nicht verdient. Sie starrte ihn empört an. Das Lächeln verschwand aus seinen Mundwinkeln. Er kniff kurz die Augen zusammen.
»Entschuldigung. Die Menschen sollten natürlich über Verbrechen nachdenken. Und darüber, was man dagegen tun kann. Die wenigsten machen sich die Mühe.«
»Ich habe gelesen, dass die Frau Lettin war. Und ich habe gehört, dass es sich möglicherweise um eine Prostituierte handelte«, begann Lia vorsichtig.
»Mit dieser Methode versuchen Reporter, Polizisten zum Reden zu bringen«, parierte Gerrish.
Lia verstummte.
»Kann ich mich darauf verlassen, dass nichts von dem, was ich Ihnen sage, im Internet oder anderen Medien landet?«, fragte Gerrish.
»Ja.«
»Na gut. Wie Sie wissen, haben wir festgestellt, dass die Frau Lettin war. Wir haben es publik gemacht, weil wir dachten, bei dieser doch eher seltenen Nationalität würden wir Hinweise aus der Bevölkerung bekommen. Das war aber nicht der Fall. Wissen Sie, wie die Leiche aussah? Was sich wirklich in dem Wagen befand?«
Lia schluckte und schüttelte stumm den Kopf.
Gerrish sprach nun schnell, ohne ihre Reaktionen zu beachten.
»Wenn man einen Menschen mit einer Straßenwalze überfährt, bleibt nichts heil. Jeder einzelne Teil des Körpers wird sozusagen aus seiner Form gequetscht.«
Er sparte keine Einzelheit aus. Die Haut der Frau, ihre Organe, die ganze Masse hatte sich ausgebreitet. Die Frau war mehrmals überrollt worden – das hatten die Pathologen anhand der Spuren im Gewebe festgestellt. Ein großer Teil des Blutes war aus dem Körper herausgepresst worden, und die großen Knochen waren natürlich zermalmt.
»Seltsamerweise sind viele der kleineren Knochen nicht zu Staub geworden, sondern nur zerbrochen.«
Die detaillierte Schilderung verursachte Lia Übelkeit, doch sie befahl sich, durchzuhalten.
Der Rechtsmediziner hatte festgestellt, dass die Fläche, auf der die Frau überrollt worden war, Einfluss auf das Ergebnis hatte, berichtete Gerrish. Es war ein weicher Untergrund gewesen, frischer Asphalt, der unter der Leiche ein wenig nachgegeben hatte. »Deshalb blieb ein Teil der Haut unversehrt, und auch die Fingernägel waren heil. Finger- und Zehennägel waren lackiert.«
Lia spürte, wie ihr Tränen in die Augen stiegen.
Ich weine nicht. Irgendwann werde ich darüber weinen, aber nicht jetzt.
»Wissen Sie irgendetwas über den Ort, wo es passiert ist?«, fragte sie, und ihre Stimme klang seltsam rau.
Nicht viel, sagte Gerrish. An der Stelle habe es frischen Asphalt gegeben, aber die Spuren, die sich unter die Körpermasse gemischt hätten, stammten von einer Sorte, die auf Baustellen im ganzen Land verwendet würde. Vermutlich sei der Tatort eine Straßenbaustelle, denn dort würden Planierraupen verwendet.
»Aber im Prinzip kann es überall passiert sein, wo in letzter Zeit der Asphaltbelag erneuert wurde. Sogar auf irgendeinem Hof, wenn er einigermaßen vor den Blicken der Nachbarn geschützt ist.«
Die Polizei hatte die Straßenbaustellen im Großraum London überprüft, denn die Leiche hatte schätzungsweise nur einen Tag im Auto gelegen. An keiner der sechzehn registrierten Baustellen waren Spuren eines Verbrechens gefunden worden. Dennoch glaubte Gerrish, dass es auf einer Baustelle passiert war. Der Täter hatte den größten Teil der Überreste auf eine Plastikplane geschaufelt und in den Kofferraum des Volvo gelegt.
»Wahrscheinlich hat er seine Spuren verwischt, indem er die Straße mit Wasser abgespritzt oder eine neue Schicht Asphalt über der Stelle aufgebracht hat. Wenn wir die Möglichkeit
Weitere Kostenlose Bücher