Die Frau ohne Gesicht
hätten, alle sechzehn Baustellen aufzureißen, würden wir irgendwo Blut und andere Indizien finden. Dessen bin ich mir ziemlich sicher. Aber für eine so umfangreiche Suchaktion bekommen wir weder die Erlaubnis noch die Mittel. Nicht einmal in einem Fall wie diesem.«
Die Polizei hatte anfangs angenommen, dass eine der Überwachungskameras den Moment aufgezeichnet hatte, als der Volvo in der Holborn Street abgestellt wurde. Immerhin war die City einer der Stadtteile mit der höchsten Kameradichte. Doch die Ermittler hatten Pech gehabt. Wenn der Wagen einige Meter näher an der Bushaltestelle geparkt worden wäre, hätte eine Kamera den Vorgang erfasst. So hatte man nur Aufzeichnungen von dem fahrenden Wagen, auf denen der Fahrer nicht zu erkennen war.
Da Gerrish sich offenbar warm geredet hatte, stellte Lia rasch die nächste Frage. »Und die Nationalität? Woran haben Sie die erkannt?«
»Das war reines Glück«, erwiderte Gerrish.
Nichts an der Leiche oder im Wagen hatte einen Hinweis auf die Identität der Toten gegeben. Man hatte feststellen können, dass der Gesundheitszustand der Frau relativ gut gewesen war. Blut, Gewebe, Haare und Knochen zeigten keine Spuren von Krankheiten oder Drogenkonsum. Der Täter hatte ausgewählt, was von der Frau übrig bleiben sollte. Nichts Identifizierbares, nur Fragmente der Kleidung und ein ganz normales goldenes Schmuckstück.
Schließlich kamen die Ergebnisse der Zahnuntersuchung. Der forensische Zahnarzt hatte festgestellt, dass die Frau mehrere Füllungen hatte. Zum Teil war dabei Material verwendet worden, das den internationalen Registern zufolge nur Anfang der 80er-Jahre in der Sowjetunion hergestellt worden war. Wegen der hohen Herstellungskosten war die Produktion eingestellt und das Restmaterial nach Lettland verkauft worden, wo es noch bis Anfang der 90er-Jahre für Zahnfüllungen verwendet wurde.
Bei einigen Zähnen des Opfers ließ sich feststellen, dass sie Ende der 80er-, Anfang der 90er-Jahre plombiert worden waren. Der Zahnarzt erinnerte sich an keinen anderen Fall, in dem eine derart genaue Zeitbestimmung möglich gewesen wäre. Die entscheidenden Punkte waren die Seltenheit des Materials, die Schließung der Fabrik und der Verkauf der Lagerbestände.
»Woher wissen Sie, dass es sich nicht um einen Zufall handelt? Könnte die Frau nicht als Touristin in Lettland gewesen und dort zum Zahnarzt gegangen sein?«
»Eine gute Frage«, sagte Gerrish.
Natürlich seien alle gefundenen Zähne untersucht worden. In den anderen habe man Plombenmaterial nachgewiesen, das zu verschiedenen Zeiten in Lettland verwendet worden war. Auch die DNA -Analyse unterstütze die Schlussfolgerung: Mit den heutigen Methoden könne man das Herkunftsgebiet eingrenzen, und die DNA der Toten deute auf das Baltikum hin.
»Haben Sie Vermutungen, wer der Täter sein könnte? Haben Sie sich irgendein Bild von ihm gemacht?«, fragte Lia.
Der Blick, den Gerrish ihr zuwarf, machte ihr klar, dass sie zu weit gegangen war.
»Natürlich haben wir ihn profiliert, aber darüber kann ich nicht sprechen.«
Lia merkte, dass ihre Zeit abgelaufen war und die Hilfsbereitschaft des Ermittlers sich dem Ende näherte.
»Hilft denn die Nationalität nicht weiter? Lettland ist doch ein kleines Land«, sagte sie.
»In Großbritannien ist keine aus Lettland stammende Frau im passenden Alter als vermisst gemeldet worden. Wir haben uns mit den lettischen Behörden in Verbindung gesetzt, aber auch dort gab es keinen Treffer.«
Dann fuhr er fort, dass im britischen Einwanderungsregister eine verhältnismäßig kleine Anzahl etwa vierzigjähriger Lettinnen verzeichnet sei. Man hatte begonnen, sie alle zu überprüfen, doch das sei dennoch ein langwieriger Prozess.
»Wahrscheinlich war sie illegal eingereist. Es gibt mit Sicherheit mehr illegale Ausländerinnen als legale, aber die sind natürlich nirgends registriert. Die allermeisten sind Prostituierte.«
Gerrish erwähnte noch, die Frau sei stark geschminkt gewesen. Das Make-up habe jedoch nichts zur Identifizierung beigetragen, da es sich um überall erhältliche Marken handelte.
»Reichlich Make-up passt zur lettischen Herkunft. Und natürlich auch zu der Vermutung, dass sie eventuell als Prostituierte gearbeitet hat.« Gerrish blickte auf die Uhr. »Jetzt haben Sie alles bekommen, was ich Ihnen geben kann. Die gesamte S-3.«
Lia sah ihn fragend an. »S-3?«
»Security drei«, sagte der Ermittler.
Es gebe verschiedene Geheimhaltungsstufen,
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