Die Frau ohne Gesicht
bestimmten Ermittler durchzustellen.
Lia hatte beschlossen, trotzdem einfach hinzugehen und ihr Glück zu versuchen. Als sie das Polizeirevier betrat, schwand ihr Optimismus. Der Empfangsraum war klein, und vor dem abgenutzten dunklen Schalter warteten bereits zahllose Menschen. Keine Stühle, keine Wartenummern, nicht einmal ordentlich gereihte Schlangen. Die beiden Polizeikräfte, die hinter dem Schalter standen, gaben sich alle Mühe, mit dem Andrang fertigzuwerden. Eine verdrossene Stimmung lag im Raum.
Lia hatte das Gefühl, fehl am Platz zu sein.
Dennoch beschloss sie, sich anzustellen, und wählte unter den beiden Polizeikräften den älteren Mann aus; die andere Polizistin, eine Frau in mittleren Jahren, wirkte zu frustriert. Lia musste zwanzig Minuten warten, während die Polizisten für einen Kunden nach dem anderen Formulare heraussuchten und Telefonnummern aufschrieben.
Als Lia an der Reihe war, grüßte sie den Polizisten freundlich: »Guten Tag.«
»Er ist gerade gut geworden«, erwiderte der Mann lächelnd. »Was kann ich für Sie tun?«
»Ich würde gern mit dem Beamten sprechen, der den Fall der Frau untersucht, die in dem Auto in der Holborn Street gefunden wurde.«
»Das ist sicher ein begründeter Wunsch, aber er ist kaum zu erfüllen«, antwortete der Polizist und erklärte ihr dann, dass die Ermittler Hinweise aus der Bevölkerung nicht persönlich annahmen; man müsse sie telefonisch oder per E-Mail beim Zentralbüro der Polizei einreichen.
»Ich habe keinen Hinweis. Ich würde nur gern ein paar Fragen stellen, es dauert nicht lange.«
Der Polizist sah sie genauer an. Auch seine Kollegin blickte herüber und machte eine Kopfbewegung, die unverkennbar besagte: Sieh zu, dass du sie loswirst.
Lia sah dem Mann direkt in die Augen.
»Aha«, sagte er. »Aha.«
Lia merkte, dass er sie sekundenschnell, aber sehr gründlich abschätzte.
»Machen wir es so«, meinte er dann. »Ich rufe den Ermittler an, und wenn er bereit ist, Sie zu empfangen, können Sie ihm Ihre Fragen stellen. Wie ist Ihr Name?«
»Lia Pajala. Vielen Dank«, sagte Lia erleichtert. Sie lächelte den Polizisten und seine strenge Kollegin strahlend an.
Der Polizist suchte in seinem Computer eine Nummer heraus und rief an. Lia betrachtete sein weiches, freundliches Gesicht und die Ohren, aus denen lange Haare wuchsen, die zu entfernen er, wie viele alternde Männer, offenbar nicht für nötig hielt.
Niemand meldete sich.
Lia war sich sicher, dass auch der Polizist am Schalter leise Enttäuschung verspürte.
»Chief Inspector Gerrish hat keine Abwesenheitsnotiz eingetragen«, sagte er mit einem Blick auf den Monitor bedauernd. »Vielleicht kommt er heute gar nicht oder hat sich verspätet.«
»Werden die Ermittlungen denn nur von einem einzigen Polizisten geführt?«
Der Schalterbeamte blickte wieder auf und erklärte Lia den normalen Ablauf einer Ermittlung. Ein Fall wie dieser werde immer von der Einheit für schwere Verbrechen untersucht, in der etwa zwanzig Polizisten arbeiteten. Gleich nach dem Fund der Leiche sei ein Case Room eingerichtet worden, in dem alle einlaufenden Informationen gesammelt wurden. Aber nach so langer Zeit befassten sich nur noch zwei Beamte mit dem Fall, von denen einer, eben Chief Inspector Gerrish, die Leitung habe. Es sei üblich, dass nach der Tatortuntersuchung und den sonstigen umfangreicheren Arbeiten in der Anfangsphase nur noch ein oder zwei Ermittler eingesetzt wurden.
»Mehr scheint Großbritannien sich nicht leisten zu können«, fügte der Polizist hinzu.
»Zum Glück scheint Großbritannien aber hervorragende Polizisten zu haben«, erwiderte Lia. »Sollte ich vielleicht einen Moment warten, ob Gerrish doch noch zur Arbeit kommt?«
»Ich kann Ihnen leider nicht sagen, ob es sich lohnt. Aber wenn Sie wollen, gern.«
Lia schenkte ihm ihr schönstes Lächeln, bedankte sich und trat zur Seite.
Während sie wartete, beobachtete sie das Gedränge. Manche Besucher waren ziemlich frustriert, doch die beiden Polizisten hinter dem Schalter schienen eine geradezu übermenschliche Fähigkeit zu besitzen, Ruhe zu bewahren.
Lia hatte noch nie mit britischen Behörden zu tun gehabt. Als EU -Bürgerin hatte sie bei ihrem Umzug nach Großbritannien nicht einmal eine Arbeits- oder Aufenthaltsgenehmigung beantragen müssen. Hier auf dem Polizeirevier merkte sie schnell, welchen Vorzug das hatte: Die meisten Besucher wollten kein Verbrechen melden, sondern brauchten einfach Hilfe im
Weitere Kostenlose Bücher