Die Frau ohne Gesicht
werden. Mari grüßte den Mann und sagte, Lia sei eine Freundin.
»Der Preis ist derselbe, auch wenn zwei zuhören«, erwiderte Big K ungerührt.
Er berichtete, er habe herumtelefoniert. »Das Ergebnis war mager. Das heißt, der Wert hängt natürlich davon ab, welche Schlüsse man daraus zieht«, erklärte er.
Unter den Berufsverbrechern schien niemand zu wissen, wer den brutalen Mord begangen hatte. Bei einem so spektakulären Fall war das ungewöhnlich.
»Normalerweise setzt der Täter selbst in Umlauf, wer er ist, oder er wird einfach erkannt. Die großen Gangs haben jeweils ihre eigenen Methoden, die Coups von Fixern sind meistens kleiner und einander ähnlich und so weiter.«
Aber niemand wusste, weshalb jemand diese Frau mit einer Straßenwalze überrollt hatte. »Oder was es nun war. Vielleicht ist der Täter ein Arbeiter beim Städtischen Verkehrsamt, der das Gemecker seiner Frau nicht mehr ertragen konnte.«
Lia warf Mari einen Blick zu. Wirklich ein zauberhafter Typ!
Aber eine kleine Information hatte Big K doch. »Ein Kumpel hat gehört, die Frau wäre von irgendwo in Osteuropa, aus Polen oder Estland oder Lettland.«
Lia unterdrückte den Impuls, dem Mann über den Mund zu fahren.
Dass die Frau wahrscheinlich aus Lettland war, stand doch schon in den Nachrichten. Lesen Verbrecher keine Zeitung?
Big K sprach weiter.
»Angeblich hat die Sache mit mehreren Huren zu tun, die vielleicht aus Lettland kommen. Das würde erklären, wie die Frau in so ’ne miese Lage geraten konnte. Und es wird gemunkelt, dass die Leiche eine Art Botschaft war. Der Täter wollte nicht ganz London dazu bringen, sich vor Angst in die Hose zu scheißen, sondern einen bestimmten Menschen oder eine bestimmte Gruppe.«
Das sei alles, meinte er und trank mit einem Zug das restliche Bier aus.
Mari nickte, nahm einen Briefumschlag aus ihrer Tasche und gab ihn Big K, der nach einem kurzen Blick auf den Inhalt ebenfalls nickte und wortlos verschwand.
Lia wartete auf einen Kommentar von Mari, die sich jedoch auf ihr Sandwich konzentrierte.
»Offenbar hattest du recht«, sagte Lia schließlich. »Ich habe keine Ahnung, was wir jetzt noch tun könnten. Sie war vielleicht eine lettische oder osteuropäische Prostituierte. Davon gibt es viele.«
»Stimmt, Big K hat uns nichts Konkretes geliefert, was wir untersuchen könnten. Aber so ist das eben – man hört sich nach allen Seiten um, damit man irgendwelche Anhaltspunkte findet«, stellte Mari fest. »Ich könnte Paddy bitten, sich bei seinen Informanten nach lettischen Prostituierten zu erkundigen, aber in der Hinsicht ist Big K besser. Paddy kennt die Gangster von früher, Big K die von heute.«
Wieder schwiegen sie eine Weile.
»Irgendwelche Ideen?«, fragte Lia dann.
»Ja, eine«, sagte Mari. »Es wäre gut, mit einem der Polizisten zu reden, die den Fall untersuchen.«
»Du wolltest doch keinen Kontakt zur Polizei.«
»Will ich immer noch nicht. Aber wir scheinen in einer Sackgasse zu stecken. Wenn dir die Sache wichtig ist, müssen wir alle Möglichkeiten abchecken. Geh zur Polizei.«
»Was würden die mir schon verraten? Ich bin doch total unbeteiligt.«
»Vielleicht verraten sie dir wirklich nichts. Aber überraschend oft bekommt man auf eine direkte Frage eine Antwort. Das ist uns Menschen irgendwie angeboren. Wir wollen geben, worum man uns bittet.«
Lia zauderte. »Und wenn sie mich für eine Verrückte halten, die auf Verbrechen fixiert ist?«
»Das käme der Wahrheit doch ziemlich nahe«, grinste Mari und hob ihr leeres Glas. »Trinken wir noch eins?«
15.
Das gedrungene, graue Gebäude des Polizeireviers der Londoner City in der Wood Street 37 war sicher einmal ein beeindruckendes Bauwerk gewesen, doch jetzt, eingeklemmt zwischen enormen, modernen Hochhäusern, wirkte es klein und schäbig.
Lia hatte sich den Vormittag freigenommen. Zwei Tage zuvor hatte sie bei der Zentrale der Polizei angerufen und gefragt, welche Einheit für die Ermittlungen im Fall Holborn Street zuständig war.
Die Frau in der Zentrale hatte ihr erklärt, dass jeder Stadtbezirk seine eigene Einheit habe, die bei jedem Verbrechen in ihrem Gebiet für die Ermittlungen zuständig sei.
»Haben Sie sachdienliche Hinweise?«, hatte die Frau routinemäßig gefragt.
»Nein. Ich würde nur gern mit dem zuständigen Ermittler sprechen.«
Jedes Treffen müsse im Voraus mit dem Büro der City-Polizei vereinbart werden, wurde sie belehrt. Es sei nicht möglich, Anrufe direkt zu einem
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