Die Frau ohne Gesicht
über die besuchten Webseiten – den Inhalt, der für sie von Bedeutung war. Alles andere würde das Speicherprogramm ignorieren.
»Merkt Nunn, dass jemand an seinem Computer war?«, fragte Lia.
»Nein«, erwiderte Rico, »auch wenn das Vertuschen eines Zugriffs das Schwierigste an der Sache ist.«
Anschließend erklärte er Lia geduldig, dass es diese Kunst sei, die den Experten vom script-kid, vom Anfänger, unterscheide. Ein Betriebssystem registriere alle Zugriffe, aber ein Profi könne das entsprechend frisieren. Und obwohl das Kopieren von Dateien deren Zeitstempel verändere, also die Angabe, wann sie zuletzt benutzt worden waren, könne auch das rückgängig gemacht werden.
Während sie warteten, musterte Lia die Bücher, sicher weit über tausend, die das wandbreite Regal füllten. Nunn besaß eine beeindruckende Sammlung von Werken über politische Geschichte, Kommunikation und Psychologie.
»Dafür gibt er sein Geld aus«, sagte Lia, »nicht für Computer.«
Rico verdrehte die Augen. Es war klar, was er davon hielt.
Als sie ihre Spuren beseitigt und die Wohnung verlassen hatten, rief Berg Maggie an.
»Keine Eile, die Pizza ist noch nicht alle«, sagte sie.
Sie holten Maggie am Restaurant ab. Lia hatte sich nach hinten gesetzt, wo Gareth Nunn sie nicht sehen würde, falls er den Wagen bemerkte.
Auf der Fahrt zum Studio sinnierte Lia darüber nach, wie schnell alles gegangen war. Als sie Nunns Haus verlassen hatten, war ihr beinahe schwindlig geworden. Aber sie empfand auch Befriedigung.
Wie Mari gesagt hatte, war alles praktisch und leicht gewesen. Und illegal. Aber außer dem Computer hatten sie in Nunns Wohnung nichts angerührt. Es war, als hätten sie nur eine Stippvisite in seinem Privatleben gemacht, höflich und sauber.
Als sie im Lift zum Studio hochfuhren, verwandelte sich Lias Zufriedenheit in ein Triumphgefühl. Sie hätte gleich noch einmal dasselbe tun können.
Das Material auf dem USB -Stick musste untersucht werden. Maggie und Berg machten Feierabend, aber die anderen drei wollten unbedingt weiterarbeiten. Rico übernahm die Textfiles, Mari die E-Mails.
»Die intimen Dinge finden sich sicher bei den Bildern und der Surf-Chronik«, meinte Rico. »Darum soll sich Lia kümmern.«
Lia legte sofort los und fand als Erstes Pornobilder, die aber eher aus dem Softbereich stammten. Sie betrachtete die Fotos nicht genauer, das wäre Voyeurismus gewesen. Die restlichen Bilder zeigten nichts Auffälliges: Reisen, Feste, Gareth Nunn mit Freunden. In den letzten Jahren hatte er offenbar zwei Freundinnen gehabt.
Im Internet hatte er sich vor allem mit Politik befasst und genau verfolgt, was über die Fair Rule geschrieben wurde. Rico fand Texte, die Nunn für die Partei verfasst hatte. Besonders interessant waren die zahlreichen Versionen des Große-Welt-Programms.
In der ersten Fassung ging es überhaupt nicht um die Landesverteidigung. Sie enthielt Nunns Vision von der Entwicklung der Einwanderung und der Stellung der ausländischen Bevölkerung. Nunn schlug gemäßigte, geradezu humane Veränderungen vor. Die neueste Version kam dem nahe, was Fried in der Eishalle gesagt hatte.
Nunn hatte seinen Text immer wieder abändern müssen, bis die Aussage sich praktisch in ihr Gegenteil verwandelt hatte.
»Klar, dass er die Partei verlassen wollte«, meinte Mari.
»Das kommt wohl in jeder Partei mal vor. Für den Urheber einer Idee ist es unerträglich, wie seine Gedanken verzerrt werden.«
Für die Überprüfung des E-Mail-Verkehrs brauchten sie Stunden.
Warum war Nunn in den Geldverkehr der Partei involviert? , fragte Mari Lia in einer Blab-Nachricht.
Aus den Mails ging hervor, dass Parteisekretär Gallagher vor einigen Monaten Nunn gebeten hatte, bei der Verteilung der Zuwendungen an die Parteiabteilungen und Mitgliedsvereine zu helfen. Dabei ging es sowohl um Rechenarbeit als auch um zähes Politisieren.
Bald hatte sich Nunn dann auch bei Gallagher beklagt, wie ermüdend die ständigen Auseinandersetzungen mit den Parteifunktionären seien. Gallagher hatte nicht darauf reagiert.
Vielleicht hatte er es darauf angelegt, Nunn zu erschöpfen, überlegte Mari.
Für die Zuwendungsbeschlüsse hatte Nunn Kopien der Buchführung der Partei erhalten. Darin war ihm etwas komisch vorgekommen.
Hier sind Zuwendungsempfänger, die nicht auf den Listen stehen. Monatliche Überweisungen. An wen? , hatte er dem Parteisekretär gemailt.
Darauf hatte Gallagher nicht geantwortet, doch am nächsten
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