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Die Frau vom Leuchtturm - Roman

Titel: Die Frau vom Leuchtturm - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Blanvalet-Verlag <München>
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lauernden Schatten neben dem Schrank verschwinden würde.
    Aber die Frau blieb genau dort stehen, wo sie war,
einen bloßen weißen Arm fast bis an ihre Wange erhoben. Mit ihren schmalen Fingern hielt sie die transparente Spitzengardine.
    Obwohl das Licht trübe war, schien ich sie außerordentlich klar zu erkennen. Üppiges pechschwarzes Haar, in das schmale, rosafarbene Satinbänder eingewoben waren, reichte ihr bis über die Taille. Eine Kette raffinierter, handgenähter Rosenblüten schmückte das Mieder ihres Kleids und passte exakt zu dem Farbton der Bänder in ihrem Haar.
    Als ich die Erscheinung vor mir länger betrachtete, wurde mir klar, dass sie in Wahrheit gar kein Kleid trug, sondern ein raffiniertes Nachthemd, wie es vielleicht eine Braut für ihre Hochzeitsnacht anlegt. Und obwohl ich ihr Gesicht nicht erkennen konnte, wusste ich irgendwie, dass sie schön und viel zu jung gestorben war.
    Noch ein paar Sekunden vergingen, und sie hatte sich immer noch nicht bewegt. Ich wagte kaum zu atmen. Der logische Teil meines Hirns bestand darauf, dass es eine vollkommen rationale Erklärung für das, was ich sah, geben musste. Aber meine törichte emotionale Seite - der Teil von mir, der regelmäßig all diese unmöglichen Tagträume von Bobbys wundersamer Rückkehr heraufbeschwor - sagte mir, dass ich einen Geist sah.
    Ich wusste nicht einmal, ob ich an so etwas glaubte. Aber man kann sich kaum lange im Antiquitätengeschäft bewegen, ohne jede Menge Gespenstergeschichten zu hören.
    Ich erinnerte mich, irgendwo aufgeschnappt zu haben, dass die Toten meist an Orte zurückkehren, an denen sie ein tiefes emotionales Trauma erlitten haben. Daher kam mir der Gedanke, dass das Gespenst am Fenster
vielleicht meine Tante Ellen war. Sie war zwar ihr Leben lang eine alte Jungfer gewesen, aber ich wusste, dass sie einmal verlobt gewesen war. Aber ihr Verlobter, ein gut aussehender Segler aus der Gegend, war bei einem tragischen Bootsunfall ums Leben gekommen, ehe sie heiraten konnten.
    Hatte die arme Tante Ellen in diesem Raum insgeheim Ausschau nach ihrem verlorenen Liebsten gehalten und auf ihn gewartet? Hatte sie in ihrem Kummer und ihrer Verzweiflung über ihren Verlust das wunderschöne Nachthemd angezogen, das sie in ihrer Hochzeitsnacht hatte tragen wollen, und war jede Nacht in dieses einsame Turmzimmer hinaufgeschlichen? Hatte sie an diesem Fenster gestanden, in die Dunkelheit hinausgesehen und sich danach gesehnt, sein Boot sicher in den Hafen unter ihr einlaufen zu sehen?
    Und hatte Tante Ellen nun, da sie endlich frei war von den Qualen ihres mit der Zeit gebrechlich gewordenen irdischen Körpers, ihre einsame nächtliche Wache wieder aufgenommen? Steckte sie irgendwie auf dieser irdischen Ebene fest und konnte nicht auf die andere Seite hinübergehen, ehe ihr lange verlorener Liebster nicht nach Hause, nach Freedman’s Cove, gesegelt kam, um seine Braut zu holen?
    Noch während mir diese wildromantischen Gedanken durch den Kopf schossen, nahm ich am Fenster eine weiche, drehende Bewegung wahr. Und ich sah in die traurigen, leuchtenden Augen der schönen jungen Frau in dem langen weißen Kleid.
    Aber sie war nicht Tante Ellen.
    Keuchend schlug ich eine Hand vor den Mund, als mir plötzlich klar wurde, wo ich ihr Gesicht schon einmal
gesehen hatte. Es war das Antlitz des Mädchens in dem alten Fotoalbum, meiner in Schande gefallenen Vorfahrin, deren Namen mir Tante Ellen vor drei Jahren nicht hatte sagen wollen.
    »Wer … wer bist du?« Meine Stimme klang schrill und zittrig, und ich hatte das Gefühl, jede Sekunde in Ohnmacht fallen zu müssen.
    Die Erscheinung am Fenster flatterte wie Rauch und löste sich dann vor meinen Augen ganz langsam auf. Das weiche Oval ihres Gesichts verweilte einen kurzen Moment länger vor dem Fenster als der Rest ihres Körpers.
    Dann war es ebenfalls verschwunden.
    Ich saß noch sehr lange da und starrte auf die Stelle, an der sie gestanden hatte. Dann schaltete ich die Leselampe am Bett ein, und sofort erfüllte weiches, gelbliches Licht den Raum. Ich schwang die Beine aus dem Bett und ging über den kalten Boden zum Fenster, als gerade der Lichtstrahl des Leuchtturms vorüberhuschte.
    Ich stellte mich genau dort hin, wo die geisterhafte Gestalt gestanden hatte, hob die Spitzengardine und spähte in die Dunkelheit hinaus, um zu sehen, was sie gerade zu diesem Fenster gezogen hatte. Doch bis auf die schattigen Umrisse der Ahornbäume im Garten, die der heulende Wind schon kahl

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