Die Frau vom Leuchtturm - Roman
ich uns begegnet waren. Genau wie an unserem ersten gemeinsamen Tag war der Gehweg regennass. Aber damals war es ein warmer Frühlingsregen gewesen, voller Hoffnung und Verheißung. Dieser Regen nun fiel kalt und schwer und versprach nichts als eine endlose Abfolge trostloser Wintertage.
Menschen, deren Gesichter hinter großen schwarzen Regenschirmen verborgen waren, kamen auf mich zu. Jeder, den ich sah, war damit bewaffnet.
Nur ich nicht.
Mein Haar war nass, und meine Kleider trieften vom eiskalten Wasser. Ich ging schneller, denn ich hatte es eilig, aus dem Regen zu kommen.
Dann erblickte ich auf der anderen Seite der dicht befahrenen Straße eine einsame Gestalt, die sich eilig von mir wegbewegte. Der Mann war groß und blond und trug Jeans und eine alte, lederne Pilotenjacke, die mir vertraut war. Und genau wie ich hatte er keinen Schirm bei sich.
Ich rief ihn. Er blieb stehen und sah mich über den vorbeirauschenden Verkehr hinweg an. Dann lächelte er, und ich sah, dass es Bobby war.
Ich wollte zu ihm rennen, trat in den überfließenden
Rinnstein und dann auf die belebte Fahrbahn. Ein Schwerlaster raste hupend an mir vorüber, versperrte mir den Blick auf den gegenüberliegenden Gehweg und bespritzte mich mit stinkendem schwarzem Wasser.
Als ich wieder etwas sehen konnte, war Bobby verschwunden.
Im Regen stand ich auf der Straße und rief seinen Namen. Ich spürte, wie heiße, bittere Tränen der Frustration über meine Wangen liefen, doch niemand sonst sah meine Tränen, die der strömende Regen immer wieder abwusch.
Ich stöhnte gequält und rief nach Bobby.
Dann spürte ich eine kühle, weiche Hand auf der Stirn und hörte ganz nahe an meinem Ohr eine beruhigende Stimme. »Pssst, Liebes«, flüsterte eine Frauenstimme. »Alles wird gut.« Langsam öffnete ich die Augen und erkannte, dass ich sicher in meinem Bett lag und nur geträumt hatte.
Das hübsche Gespenstermädchen saß neben mir und lächelte mit ihren dunklen, traurigen Augen auf mich herab.
»Oh Gott!«
Ich fuhr hoch, als der vorüberhuschende Lichtstrahl des Leuchtturms den Raum mit einem grellen, weißen Schein erhellte. In dem Licht verschwand die Gestalt vor mir. Dann war ich wieder allein im Dunkeln.
»Du hast nur geträumt«, versicherte ich mir zähneklappernd. Obwohl die Spiralen des alten elektrischen Heizgeräts rot glühten, war es in dem Zimmer eiskalt. Ich wandte meinen Blick zum Fenster.
Die Spitzenvorhänge bauschten sich elegant um den
antiken Ahorn-Schrank. Einen Moment lang war ich mir ganz sicher, dass meine geisterhafte Besucherin dort im Schatten stand. Doch dann wurde mir klar, dass die Gardinen einfach im kalten Luftzug flatterten, denn eines der Fenster stand einen Spaltbreit offen.
Ich stieg aus dem Bett und huschte barfuß über die eiskalten Dielen, um das Fenster zu schließen. Als ich näher kam, hörte ich eine schwache, melodische Stimme, die von der Wiese unten aufstieg. Ich schaute nach draußen und sagte mir, das müsse der Wind sein, oder vielleicht eine der wilden Katzen, die Tante Ellen immer gefüttert hatte. Doch die Luft war völlig ruhig, und in den tintenschwarzen Schatten, die das Haus umgaben, bewegte sich nichts.
Dann hörte ich die Stimme wieder, lauter als zuvor. Mein Körper erschauerte von einer Eiseskälte, die nichts mit der kühlen Luft zu tun hatte, die durch das Fenster drang. Denn das war unverkennbar die Stimme einer Frau. Irgendwo im Dunkeln unter mir sang sie eine liebliche, traurige Melodie.
Wieder huschte der Lichtstrahl vom Leuchtturm über das Haus und erleuchtete ihre schimmernde Gestalt, die neben dem schmiedeeisernen Zaun stand. Genau wie letzte Nacht war sie in fließende weiße Spitze gekleidet.
Verblüfft keuchte ich auf, doch sie sah nicht nach oben. Stattdessen glitt sie, immer noch leise ihr Lied singend, das ich nicht verstand, in Richtung Maidenstone Island davon.
Ich stand am Fenster, bis die letzten schwachen Töne ihrer Stimme von dem ganz gewöhnlichen Plätschern der Wellen, die an den nahe gelegenen Strand schlugen, übertönt wurden. Mit zitternden Händen schloss ich
dann das Fenster und ging nach unten, um mir einen Tee zu kochen.
Mir war klar, dass ich bis zum Morgen keinen Schlaf mehr finden würde.
Als der Tee fertig war, setzte ich mich an den Küchentisch und versuchte wenig erfolgreich, Wirklichkeit und Einbildung auseinanderzuhalten. Ich war überzeugt davon, dass das schöne Gespenstermädchen echt war, aber ich konnte mir nicht
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