Die Frau vom Leuchtturm - Roman
bestellen sollen, dann hätten wir weiter die Aussicht auf den Regen und den Hafen gehabt.«
Dan lächelte geheimnisvoll. »Vielleicht möchtest du noch einmal genauer hinsehen, ehe du ein endgültiges Urteil fällst«, schlug er vor und wies auf die Mitte der Wand, direkt vor uns. Ich folgte seinem Blick und nahm die einzige nicht maritime Dekoration in Augenschein: das obligatorische Bar-Gemälde einer sich zurücklehnenden Nackten mit rosigen Wangen, das in einem dicken, vergoldeten Rahmen über dem mit Spiegeln geschmückten hinteren Teil der Bar hing.
»Bezaubernd«, meinte ich lachend und wandte mich nach einem flüchtigen Blick wieder ab. »Um die Jahrhundertwende muss es ein Gesetz gegeben haben, nach dem jedes Lokal, ganz egal wie elegant, eins von diesen scheußlichen Bildern über der Bar haben musste.«
Dan sah noch immer das Bild an. »Schau noch mal genauer hin«, sagte er.
Ungeduldig verdrehte ich die Augen und tat ihm den Gefallen, noch einmal zu dem kitschigen Bild aufzusehen. Besonders fantasievoll war es nicht, aber der Künstler hatte sein Handwerk verstanden. Es war ihm gelungen, die zarte Schönheit seines Modells vollkommen einzufangen. Die junge Frau mit dem rabenschwarzen Haar lag auf einem roten Samtsofa und hatte beide Arme anmutig über den Kopf gehoben. Das obligatorische Fransentuch war schamhaft so drapiert, dass es nicht allzu viel enthüllte. Die dunklen, schimmernden Augen sahen herausfordernd in den Raum und luden jeden, der nur wollte, ein, bewundernd ihre
zarten Gliedmaßen und ihre vollen, weichen Brüste zu mustern …
Es dauerte eine ganze Minute, bis mir klar wurde, was ich da sah.
»Oh mein Gott!«, flüsterte ich.
»Darf ich vorstellen: deine Vorfahrin Aimee Marks«, sagte Dan gelassen.
»Oh mein Gott«, wiederholte ich, nahm einen viel zu großen Schluck von meinem Amaretto und erstickte fast an dem süßen Likör. »Wie in aller Welt hast du das entdeckt?«
Dan lächelte. »Als du mir das Foto gezeigt hast, kam mir das Gesicht des Mädchens bekannt vor«, antwortete er. »Zuerst dachte ich, das läge an der Ähnlichkeit mit dir. Aber ich komme ab und zu mit Kunden hierher, daher war es nur eine Frage der Zeit, bis ich Aimee mit diesem Gemälde in Verbindung gebracht habe.«
»Verblüffend«, sagte ich und stand auf, um das Skandalbild genauer ansehen zu können. »Sie war wirklich wunderschön, nicht wahr?«
Dan schaute ebenfalls zu dem Gemälde auf und nickte. »Ja, und ich vermute mal, sie hätte sich wahrscheinlich jede Menge Ärger mit ihrer Familie eingehandelt, wenn das herausgekommen wäre.« Er warf mir einen vielsagenden Blick zu. »Nach dem, was wir inzwischen über Aimee Marks wissen, ist es wahrscheinlich herausgekommen.«
»Du lieber Himmel!«, flüsterte ich.
»Der Künstler war ein ziemlich notorischer Schürzenjäger namens Ned Bingham«, fuhr Dan fort und konsultierte ein kleines Notizbuch, das er aus der Tasche gezogen hatte. »Ich habe bei einem Bekannten, einem
hiesigen Kunsthändler, ein paar Nachforschungen angestellt«, sagte er, »und erfahren, dass Bingham im Sommer 1909 aus New york hergekommen ist, um ein paar Familienporträts für einen Industriellen namens Howard Chase anzufertigen. Bingham war ein erstklassiger Porträtmaler und damals so eine Art kleine Berühmtheit, so dass er während seines Aufenthalts in Newport wahrscheinlich auch bei mehreren neureichen Familien in Freedman’s Cove eingeladen war.«
»So muss er Aimee begegnet sein«, keuchte ich.
Dan nickte. »So sieht es aus«, pflichtete er mir bei. »Viel mehr konnte ich nicht über Ned Bingham herausfinden, nur dass er offenbar ein sehr gut aussehender Mann war und Gerüchte wissen wollten, er habe schon mehr als eine ansonsten respektable junge Frau verführt, indem er ihr so lange schmeichelte, bis sie die Kleider ablegte, um auf der Leinwand unsterblich zu werden.«
»An der Kunstakademie hatte ich einen Dozenten, der die gleiche Methode benutzt hat«, überlegte ich laut und sah zu dem Akt hinter der Bar auf. »Aber Aimee Marks zu verführen und ihr Bild anschließend an einen privaten Herrenclub in Newport zu verkaufen, wo es ganz bestimmt jemand sehen würde, der ihre Familie kannte, das sind ja wohl zwei verschiedene Dinge«, meinte ich verwundert. »Dieser Ned Bingham muss wirklich dreist gewesen sein.«
Dan zuckte die Achseln. »Vielleicht. Aber ich glaube eher, das Bild ist vollkommen zufällig im Greystone-Club gelandet«, sagte er. »Ich habe über
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