Die Frau vom Leuchtturm - Roman
hörte, wie Alice jemandem energische Anweisungen erteilte, und dann kam sie wieder ans Telefon. »In diesem Moment«, erklärte sie, »sind zwei sehr große und sehr freundliche Pfleger im Begriff, Ihren Mr. St. Claire wieder ins Bett zu bringen wie ein unartiges Kind.«
Mit einem Mal klang Alice sehr erschöpft. »Ich hatte befürchtet, dass so etwas passieren würde, wenn Damon zu früh mit Ihnen spricht.«
Ich hatte das Gefühl, mir würde gleich der Kopf platzen, und war mir nicht sicher, ob ich sie richtig verstand. »Sie meinen also, dass Damon immer noch … Wahnvorstellungen hat?«, fragte ich. »Er hat mir gerade erzählt …«
Mit einem verächtlichen Schnauben unterbrach mich Alice. »Ich weiß genau, was er Ihnen erzählt hat, Susan. Gott weiß, dass ich mir das schon den ganzen Abend anhöre. Damon behauptet jetzt, er hätte Ihren toten Verlobten gesehen, und er sei gar nicht tot.«
Das ging mir alles zu schnell. Ich bekam kaum Luft
und hatte das Gefühl, jeden Moment in Ohnmacht zu fallen. »Aber Sie glauben nicht, dass Bobby wirklich … lebt?«
»Nein, Susan.« Alice klang jetzt nicht mehr schroff, sondern sanft und begütigend. »Ich fürchte, Ihr armer, verwirrter Freund verteidigt auf diese Art nur seine vorherige paranoide Wahnvorstellung. Es kommt ziemlich häufig vor, dass Patienten wie Damon ihre Geschichten ändern, um sie veränderten Umständen anzupassen …«
»Oh!«, flüsterte ich. Alle meine Ängste und Schmerzen von eben zogen sich zu einem einzigen, dumpfen Druckgefühl in meiner Brust zusammen. Wenn Alice Recht hatte, dann hatte Damons Verletzung seinen Verstand vielleicht doch geschädigt, vielleicht schlimmer, als jemand von uns sich das vorstellen konnte.
Eine weitere Sturmbö ließ das alte Haus knarren und erbeben. Nervös warf ich einen Blick aus dem Turmfenster und erblickte den Lichtstrahl vom Leuchtturm, der seine endlosen Runden über dem tobenden Meer zog.
»Ich … wir kommen noch heute Nacht nach Boston«, sagte ich.
Alice’ Antwort kam sofort und unmissverständlich. »Nein!«, erklärte sie. »Tun Sie das bitte nicht, Susan. Sie müssen doch inzwischen erkannt haben, dass Damon immer noch sehr … konfus ist. Ich habe einen ausgezeichneten Psychiater hinzugezogen, aber es wird noch einige Zeit dauern, bis Damon so weit ist, dass er Besuch empfangen kann.«
»Einen Psychiater?« Plötzlich hatte ich das Bild von Laura vor Augen, wie sie in ihrem italienischen Ledersessel saß und wortgewandt ein Urteil darüber abgab, was in meinem Kopf vorging, obwohl sie nicht die
geringste Vorstellung davon hatte, was ich tatsächlich erlebte. Aufgrund dieser Erfahrung gestand ich Psychiatern nur wenig mehr Glaubwürdigkeit zu als Schamanen und Gebrauchtwagenhändlern.
Außerdem, sagte ich mir, erklärte Damons unglaubliche Geschichte wenigstens, warum er an diesem Abend ins Flugzeug gestiegen war, um zu mir zu kommen.
Und irgendjemand war schließlich in meine Wohnung in Manhattan eingebrochen und hatte Bobbys Sachen durchwühlt.
»Sind Sie sich absolut sicher, dass diese ganze neue Geschichte nur in Damons Kopf existiert, Alice?«, fragte ich argwöhnisch.
»Vollkommen«, gab sie ohne zu zögern zurück. »Ich brauche Sie ja wohl nicht daran zu erinnern, Susan«, setzte sie hinzu und klang leicht verletzt über meine Zweifel an ihrem Urteil, »dass ich dem Mann das Leben gerettet habe. Ich versichere Ihnen, dass ich nur an Damons Wohlergehen denke. Sie können mir vertrauen.«
32. Kapitel
Nachdem ich aufgelegt hatte, streckte ich mich quer über mein Bett aus und versuchte, meine verwirrten Gefühle zu ordnen, während ich darauf wartete, dass sich der Klumpen, der in meiner Kehle saß, auflöste.
Während Damon seine paranoiden Wahnvorstellungen losgeworden war, hatte ich mir ein paar atemberaubende Sekunden lang zu glauben erlaubt, Bobby könnte wirklich noch am Leben sein. Und damit waren all der Kummer und die Verletzungen der vergangenen Monate zurückgekehrt, ein unerträglicher, brennender Schmerz, noch verstärkt durch den widersinnigen Vorwurf, Bobby hätte mich irgendwie angelogen und unsere Liebe verraten, indem er mich absichtlich hatte leiden lassen.
Ich schalt mich für meine Dummheit. Wie hatte ich das auch nur eine Sekunde lang glauben können? Der Bobby, den ich gekannt und geliebt hatte und dessen Erinnerung ich immer in Ehren halten würde - auch wenn ich jetzt einen anderen liebte -, hätte mich niemals in eine so schreckliche Verzweiflung
Weitere Kostenlose Bücher