Die Frau von dreißig Jahren (German Edition)
Bilde noch einen besonderen Zauber. Das war die Touraine in ihrer ganzen Pracht, der Frühling in seiner ganzen Herrlichkeit. Dieser Teil Frankreichs, der einzige, den die fremden Armeen nicht stören sollten, war zu jener Zeit der einzig ruhige, und man hätte meinen können, daß er der Invasion Trotz biete.
Sowie die Kalesche nicht mehr weiterfuhr, zeigte sich ein Kopf mit einer Feldmütze; und sogleich öffnete ein ungeduldiger Offizier eigenhändig den Wagenschlag und sprang auf die Straße, um den Postillion zur Rede zu stellen. Doch die Geschicklichkeit, mit der dieser Mann aus der Touraine die zerrissene Zugleine wieder instand setzte, beschwichtigte den Obristen Comte d'Aiglemont, der an den Wagenschlag zurücktrat und die Arme streckte, um die steifen Glieder zu lockern. Er gähnte, betrachtete die Landschaft und legte die Hand auf den Arm einer jungen Frau, die sorgfältig in einen Pelzmantel eingehüllt war.
»Wach auf, Julie«, rief er mit heiserer Stimme, »sieh dir doch einmal die Landschaft an! Sie ist prachtvoll.«
Julie steckte den Kopf aus dem Wagen. Sie trug eine Marderpelzmütze, und der weite pelzgefütterte Mantel, den sie trug, verbarg ihre Gestalt so völlig, daß man nur das Gesicht sehen konnte. Julie d'Aiglemont glich schon nicht mehr dem jungen Mädchen, das vor nicht allzu langer Zeit freudig und glücklich zu der Parade in die Tuilerien geeilt war. Ihr noch immer zartes Gesicht hatte die rosigen Farben verloren, die es ehedem hatten so blühend erscheinen lassen. Ihr schwarzes, von der Feuchtigkeit der Nacht aufgelöstes Lockenhaar ließ das matte Weiß des Gesichts hervortreten, dessen Lebhaftigkeit erstarrt schien. Ihre Augen glänzten allerdings in einem übernatürlichen Feuer; doch unterhalb der Lider lagen dunkle Schatten auf den müden Wangen. Sie ließ ihre Blicke gleichgültig über die Landschaften des Cher, der Loire mit ihren Inseln, über Tours und die Felsenkette von Vouvray schweifen, dann sank sie schleunigst wieder in die Polster des Wagens zurück, ohne das entzückende Tal der Cise ansehen zu wollen, und sagte mit einer Stimme, die im Freien außerordentlich schwach klang: »Ja, es ist wunderbar.«
Sie hatte, wie man sieht, über ihren Vater gesiegt – zu ihrem Unglück.
»Julie, möchtest du nicht hier leben?« – »Oh, hier oder anderswo«, sagte sie leichthin. »Fehlt dir etwas?« fragte sie der Oberst d'Aiglemont. »Keineswegs«, erwiderte die junge Frau mit erzwungener Lebhaftigkeit. Sie blickte ihren Mann lächelnd an und fügte hinzu: »Ich möchte schlafen.«
Plötzlich ertönte der Galopp eines Pferdes. Victor d'Aiglemont ließ die Hand seiner Frau los und wandte den Kopf nach der Biegung, die der Weg an dieser Stelle machte. Sobald der Oberst von Julie wegblickte, schwand der heitere Ausdruck, den sie ihrem blassen Gesicht gegeben hatte, als wäre ein heller Schein plötzlich erloschen. Da sie weder den Wunsch hatte, die Landschaft wiederzusehen, noch die Neugier, zu wissen, wer jener Kavalier sei, dessen Pferd so wild dahergaloppierte, drückte sie sich in die Ecke des Wagens und hielt die Augen starr und ohne irgendein Gefühl zu verraten, auf die Kruppe der Pferde gerichtet. Sie hatte den stumpfen Blick eines bretonischen Bauern, wenn er die Predigt seines Pfarrers hört. Ein junger Mann auf einem kostbaren Pferde kam plötzlich aus einem Wäldchen von Pappeln und blühendem Hagedorn hervor.
»Das ist ein Engländer«, sagte der Oberst. »Ach Gott, ja, Monsieur le Général«, erwiderte der Postillion; »es ist einer von den Kerlen, die, wie man sagt, Frankreich fressen wollen.«
Der Unbekannte war einer jener Reisenden, die sich auf dem Kontinent befanden, als Napoleon in Erwiderung der Verletzung des Völkerrechts durch das Kabinett von Saint-James, das den Vertrag von Amiens gebrochen hatte, alle Engländer festnehmen ließ. Diese Gefangenen, die den Launen der kaiserlichen Macht unterstellt waren, blieben nicht alle an den Orten, wo sie festgenommen worden waren, noch an denen, die sie anfangs nach Belieben wählen konnten. Die meisten von denen, die zu dieser Zeit die Touraine bewohnten, waren aus den verschiedensten Teilen des Kaiserreichs, wo ihr Aufenthalt die Interessen der kontinentalen Politik hätte gefährden können, dorthin transportiert worden. Der junge Gefangene, der hier seine Vormittagslangeweile spazierenführte, war solch ein Opfer der bürokratischen Macht.
Vor zwei Jahren hatte er auf Befehl des Ministeriums für
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