Die Frau von dreißig Jahren (German Edition)
sie ihren Pflichten treu bleiben wollen, oder sie machen sich einer Verfehlung schuldig, wenn sie zugunsten ihrer Freuden die Gesetze verletzen. Diese Betrachtungen sind alle auf Julies heimliche Geschichte anwendbar. Solange Napoleon an der Macht war, erregte der Comte d'Aiglemont keinen Neid. Er war ein Oberst wie so viele andere, ein guter Ordonnanzoffizier, eignete sich vorzüglich, gefährliche Missionen auszuführen, war jedoch unfähig, ein Kommando von irgendwelcher Bedeutung zu übernehmen; er galt für einen der Tapferen, denen der Kaiser seine Gunst schenkte, und war, was man beim Militär gewöhnlich einen braven Burschen nennt. Die Restauration, die ihm den Titel ›Marquis‹ zurückgab, fand ihn nicht undankbar: er folgte den Bourbonen nach Gent. Dieser Akt der Logik und Treue strafte die Prophezeiung Lügen, die ihm sein Schwiegervater seinerzeit gemacht hatte, als er sagte, er würde sein Leben lang Oberst bleiben. Als Monsieur d'Aiglemont bei der zweiten Rückkehr zum Generalleutnant ernannt und wieder Marquis geworden war, hatte er den Ehrgeiz, nach der Pairswürde zu streben. Er nahm die Grundsätze und die Politik des ›Conservateur‹ an, hüllte sich in eine Verstellung, hinter der nichts steckte, setzte eine bedeutsame Miene auf, verlegte sich aufs Fragen, sprach wenig und wurde für einen tiefsinnigen Menschen gehalten. Da er sich stets hinter höflichen Phrasen verschanzt hielt, mit leeren Floskeln reich versehen war, mit Schlagworten um sich warf, die in Paris regelmäßig geprägt werden, um den Sinn der großen Ideen und Tatsachen in kleiner Münze an die Dummen auszugeben, wurde ihm in der Gesellschaft der Ruf eines Mannes von Geschmack und Wissen zuteil. Da er eigensinnig auf seinen aristokratischen Anschauungen beharrte, wurde er als ein fester Charakter gepriesen. Wurde er zufällig einmal wie früher harmlos und lustig, so hielten die anderen seine albernen und unbedeutenden Äußerungen für verborgene diplomatische Anspielungen.
›Oh! er sagt nur, was er sagen will‹, dachten brave biedere Leute. Seine guten Eigenschaften wie seine Fehler kamen ihm gleicherweise zustatten. Seine Tapferkeit hatte ihm einen hohen militärischen Ruf verschafft, der in nichts widerlegt wurde, da er ja nie ein Oberkommando geführt hatte. Sein männliches, distinguiertes Aussehen ließ auf kühne Gedanken schließen, und seine Physiognomie war nur für seine Frau eine glatte Täuschung. Indem alle Welt die Pseudotalente des Marquis d'Aiglemont bewunderte, kam dieser schließlich selbst zu der Überzeugung, daß er einer der bemerkenswertesten Männer des Hofes sei. Und wirklich wurden dort, wo er dank seiner äußeren Erscheinung zu gefallen wußte, seine verschiedenen Vorzüge ohne Widerspruch anerkannt.
Trotz alldem war Monsieur d'Aiglemont zu Hause bescheiden. Er fühlte instinktiv die Überlegenheit seiner Frau, so jung sie auch war, und aus diesem unwillkürlichen Respekt erwuchs eine heimliche Macht, zu deren Annahme sich die Comtesse gezwungen sah, obwohl sie die Last gern von sich abgewälzt hätte. Als Ratgeberin ihres Mannes lenkte sie seine Handlungen und seine Geschäfte. Dieser ungewollte Einfluß war für sie eine Quelle der Demütigung und vieler Schmerzen, die sie in ihrem Innern verschloß. Ihr zarter, weiblicher Instinkt sagte ihr, daß es weit schöner ist, einem Mann von Geist zu gehorchen, als einen Dummkopf zu leiten, und daß eine junge Gattin, die genötigt ist, als Mann zu denken und zu handeln, weder Mann noch Frau ist, daß sie der Grazie ihres Geschlechts entsagt und dafür keines der Privilegien eintauscht, die unsere Gesetze den Stärkeren zugebilligt haben. Ihre Existenz verbarg einen bitteren Hohn. War sie nicht genötigt, einen hohlen Götzen zu ehren, ihren Beschützer zu schützen, der, armselig wie er war, ihr zum Lohn für ihre stetige Hingebung die selbstsüchtige Liebe der Ehemänner zuwarf, nur das Weib in ihr sah, sich nicht die Mühe nahm, sich um das zu kümmern, was ihr Vergnügen machte, und, was beides eine gleich große Kränkung für sie war, der nicht wußte, woher ihre Traurigkeit und ihr Hinsiechen kam? Wie die meisten Ehemänner, die das Joch eines höher stehenden Geistes fühlen, beschwichtigte der Marquis seine Eigenliebe, indem er von der physischen Schwäche Julies auf ihre geistige Schwäche schloß und sich beim Schicksal darüber beklagte, daß es ihm ein kränkliches Mädchen zur Frau gegeben habe.
Kurz, er betrachtete sich als Opfer,
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