Die Frau von dreißig Jahren (German Edition)
hatte seine Hand noch nicht herausziehen können. Der General erschien in der Tat; aber die Marquise irrte sich, es hatte ihn eine persönliche Angelegenheit hereingeführt. »Kannst du mir nicht ein seidenes Kopftuch leihen? Dieser nichtswürdige Kerl von einem Diener läßt mich ganz ohne Tücher für den Kopf. In den ersten Tagen unserer Ehe hast du dich mit solch peinlicher Sorgfalt meiner Sachen angenommen, daß du mich damit langweiltest. Ach! der Honigmond war weder für mich noch für meine Haartücher von langer Dauer. Jetzt bin ich der Liederlichkeit dieser Bande ausgeliefert, die mich zum besten hat.« – »Nehmen Sie, hier ist ein seidenes Tuch. Waren Sie nicht im Salon?« »Nein.« – »Sie hätten dort vielleicht noch Lord Grenville angetroffen.« – »Er ist in Paris?« – »Gewiß.« – »Nun, ich gehe hinein ... der gute Doktor.« – »Aber er muß schon fort sein!« rief Julie. Der Marquis stand jetzt im Zimmer seiner Frau und wand sich das Tuch um den Kopf, indem er sich wohlgefällig im Spiegel betrachtete. »Ich weiß gar nicht, wo unsere Leute sind«, sagte er; »ich habe Charles dreimal geklingelt, aber er ist nicht gekommen. Ihre Zofe ist auch nicht da? Läuten Sie ihr, ich möchte für die Nacht noch eine Decke für mein Bett.« – »Pauline ist ausgegangen«, antwortete trocken die Marquise. »Um Mitternacht?« fragte der General. »Ich habe ihr erlaubt, in die Oper zu gehen.« – »Das ist seltsam!« meinte ihr Gatte, während er sich auskleidete, »mir ist, als hätte ich sie gesehen, als ich die Treppe heraufkam.« – »Dann ist sie eben schon zurück«, sagte Julie mit erheuchelter Ungeduld. Dann zog sie so schwach als möglich an der Klingelschnur, um bei ihrem Mann keinen Argwohn zu wecken.
Die Ereignisse dieser Nacht sind nicht völlig bekannt geworden; aber sie waren wohl alle ebenso einfach und ebenso schrecklich wie die alltäglichen häuslichen Vorkommnisse, von denen hier berichtet wurde. Am Tage darauf legte sich die Marquise d'Aiglemont für mehrere Tage zu Bett.
»Was ist denn bei dir so Außergewöhnliches vorgekommen, daß alle Welt von deiner Frau spricht?« fragte Monsieur de Ronquerolles Monsieur d'Aiglemont einige Tage nach dieser Unglücksnacht. »Glaube mir, bleib Junggeselle«, sagte d'Aiglemont. »Die Vorhänge von Hélènes Bett haben Feuer gefangen. Meine Frau hat davon einen solchen Nervenschock bekommen, daß sie auf ein Jahr hinaus krank sein wird, wie der Arzt sagt. Man heiratet eine hübsche Frau, sie wird häßlich; man heiratet ein gesundes, blühendes Mädchen, sie fängt an zu kränkeln; man glaubt, sie sei leidenschaftlich, sie ist kalt, oder vielmehr sie erscheint kalt und ist in Wirklichkeit so leidenschaftlich, daß sie einen umbringt oder entehrt. Bald wird das sanfteste Geschöpf launenhaft – und niemals werden die Launenhaften wieder sanftmütig –, bald zeigt auch das Kind, das ihr schwach und töricht glaubtet, einen eisernen Willen und gebärdet sich, als sei der böse Geist in sie gefahren. Ich habe die Ehe satt.« – »Oder deine Frau.« – »Das dürfte schwierig sein. Apropos! Willst du mit mir nach Saint-Thomas-d'Aquin kommen zum Begräbnis von Lord Grenville?« – »Sonderbarer Zeitvertreib!« versetzte Ronquerolles. »Weiß man eigentlich bestimmt die Ursache seines Todes?« – »Sein Kammerdiener behauptet, daß er eine ganze Nacht lang außen an einer Fensterbrüstung zugebracht hat, um die Ehre seiner Geliebten zu retten, und es war verdammt kalt in diesen Tagen.« – »Diese Aufopferung wäre höchst rühmenswert für einen von uns alten Routiniers; aber Lord Grenville war jung und ... Engländer. So ein Engländer will doch immer den Sonderling spielen.« – »Bah!« antwortete d'Aiglemont, »solche Heldentaten sind immer auf die Frau zurückzuführen, die sie einflößt, und für meine wäre der arme Arthur gewiß nicht gestorben.«
2. Unbekannte Leiden
Zwischen dem kleinen Flusse Loing und der Seine erstreckt sich eine weite Ebene, an die der Wald von Fontainebleau und die Städte Moret, Nemours und Montereau grenzen. In diesem öden Land erheben sich nur vereinzelte Hügel; hier und dort zwischen den Feldern kleine Wäldchen, die dem Wild Zuflucht bieten; sonst, soweit das Auge blickt, endlose graue oder gelbliche Flächen, wie sie den Landschaften der Sologne, der Beauce und des Berri eigen sind. Mitten in dieser Ebene gewahrt der Reisende zwischen Moret und Montereau ein altes Schloß, das Saint-Lange
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